Peter Tscherkassky

Weißes Rechteck und Schwarzes Quadrat –

Über das Verhältnis von Film und bildender Kunst

1915, zwanzig Jahre nach der legendären ersten Kinovorführung der Brüder Lumière in Paris, vollendet der wohl einflußreichste Pionier des Spielfilms, der Amerikaner David W. Griffith, sein Opus magnum: The Birth of a Nation. Wie kein Regisseur vor ihm hatte Griffith die spezifischen Potentiale der Kinematographie als eines Mediums der Erzählung erkannt und entwickelt. Für die Filmgeschichtsschreibung gilt sein vielstündiges Historienepos als die Geburt des modernen Kinos.
Ebenfalls im Jahr 1915 schreibt der Maler des berühmten "Schwarzen Quadrats auf weißem Grund", Kasimir Malewitsch, in seinem Manifest des Suprematismus: "Die gesamte bisherige und heutige Malerei vor dem Suprematismus, das Wort und die Musik, waren Sklaven der Naturformen, sie warteten auf ihre Befreiung, um ihre eigene Sprache sprechen zu können und nicht mehr abhängig zu sein vom Verstand, vom Sinn, von der Logik, Philosophie, Psychologie und von verschiedenen Gesetzen der Ursächlichkeit sowie der technischen Veränderung des Lebens." Es ist unschwer zu erkennen, daß Film und bildende Kunst zu diesem Zeitpunkt zwei ziemlich unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen...

Wie kam es dazu? Um diese Frage beantworten zu können, brauchen wir eine kurze Bestimmung unserer Epoche – der Moderne.
Das Schlüsselwort zu einem ersten Verständnis der Moderne heißt "Vernunft". Unter ihrer Anleitung sollte es zu einer fundamental neuen Ordnung der Gesellschaft, zu einer gerechten Verteilung politischer Macht kommen. In der Philosophie entsprechen dem die Konzepte der Aufklärung. Deren Leitmotiv hat Immanuel Kant am prägnantesten formuliert: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit."[1] Sozialgeschichtlich war es die französische Revolution von 1789, mit der die Vernunft zur Legitimationsinstanz von Herrschaft (anstelle "gottgegebenen" Herrschertums) erhoben wurde.[2] Aber auch der damals schon heftig sprießende Kapitalismus folgt, wie der Sozialökonom und Wirtschaftshistoriker Max Weber gezeigt hat[3], einem abstrakteren, "rationaleren" Denken als vormoderne Wirtschaftssysteme, in denen etwa ethisch-moralische Überlegungen, die der kapitalistischen Ökonomie weitgehend fremd sind, durchaus eine Rolle gespielt hatten. Damit ist eine der Paradoxien der Moderne angesprochen: Einerseits wird magischen, irrationalen Weltbildern der Boden entzogen; andererseits hat die abstrakt-regelgeleitete Zweckrationalität, die unseren Umgang mit Wirklichkeit prägt, selbst schon irrationale, weil selbstdestruktive Dimensionen angenommen.
Kulturgeschichtlich gesehen ist die Moderne also das Ergebnis eines Rationalisierungsprozesses, der sich in seiner technischen Ausprägung – als Siegeszug der Industrialisierung – die Welt verfügbar machte.

Was aber bedeutet dieser Rationalisierungsprozeß für die Kunst?
Zum einen ist es ihr gesellschaftlicher Status, der sich radikal ändert. Die Voraussetzungen dafür lieferte ebenfalls das Revolutionsjahr 1789: Damals kam der bildenden Kunst der Auftraggeber Kirche abhanden. Mit dem Zusammenbruch traditionalistischer Kulturmuster, die der Kunst eine dienende, funktionale Position zugewiesen hatten, wird sie in die Autonomie entlassen. Es entsteht ein neuer gesellschaftlicher Binnenraum, innerhalb dessen sich die Kunst ab nun zu bewegen hat. Mit der Befreiung aus dem Rahmen übergeordneter traditioneller Aufgaben und Kontexte sowie dem Erreichen eines säkularisierten Selbstzwecks ist verwirklicht, was bis heute unter moderner, autonomer Kunst verstanden wird. Zugleich war die Kunst der Revolution – der französische Klassizismus – die letzte gesamtgesellschaftlich akzeptierte Kunst. Wie sich damals eine kollektive Vorstellung von der Vernunft als ordnender Kraft zur Gestaltung der Gesellschaft etablierte, so bildete sich parallel dazu ein kodifiziertes, "vernünftiges" System von bildnerischen Gestaltungsregeln heraus, das an den Kunstakademien gelehrt wurde. Dieses Regelsystem wurde ahistorisch gedacht, und bis herauf zu den russischen Konstruktivisten läßt sich diese Suche nach einem übergeschichtlich geltenden Gestaltungskanon entdecken.[4]


Mit der Eigendynamik der Rationalität als wichtigstem Kriterium zur Beurteilung allen Handelns erhöht sich auch der Druck auf das Individuum: Dieses kann sich nun nicht mehr auf unhinterfragte, tradierte Muster zur Sinnstiftung verlassen, sondern muß diese durch eigenverantwortliche, vernünftige Handlungen ersetzen. Gleiches gilt für die Kunst – und damit sind wir bei den Konsequenzen, die sich aus dem Rationalisierungsprozeß innerhalb künstlerischen Schaffens durchzusetzen begannen. Mit welchen Bildformen versucht sich das neue rationale (Selbst-)Bewußtsein zu artikulieren?
Idealiter unterwirft eine demokratische Gesellschaft ihren Aufbau einer permanenten kritischen Selbstreflexion im Focus vernünftiger Urteile. Parallel zu dieser fortschreitenden Durchdringung des gesamten gesellschaftlichen Raums mit Rationalität beginnt auch die Kunst ihre innere Struktur, ihre gestalterischen Mitteln und Möglichkeiten, ihr jeweiliges Material in den Werken selbst zu reflektieren. Alles auf der Ebene der Gestaltung – was gestaltet wird und wie gestaltet wird – verliert den Charakter einer "Selbstverständlichkeit". Sukzessive kommt es zu einer schrittweisen Preisgabe der abbildenden Funktion: Die Kunst beginnt sich in Richtung zunehmender Abstraktion zu entwickeln. Dieser Prozeß einer Krise der Repräsentation läßt sich rückblickend als konsequent und folgerichtig darstellen. Er stellt eine Entwicklung dar, innerhalb derer sich bildende Kunst von allen Normen einer tradierten – und das heißt abbildenden – Ästhetik verabschiedet. Diese Krise der Repräsentation markiert und begleitet die Entwicklung der Moderne und erschließt ihr mit jedem Schritt in Richtung Abstraktion neue gestalterische Möglichkeiten.
Insgesamt kann man das Jahr 1910 als Höhepunkt jener 1789 einsetzenden Bewegung ansehen, innerhalb derer sich die Kunst in eine immanente Formgeschichte zurückzieht. Am Beginn des 20. Jahrhunderts sind aus der Kunst sämtliche herkömmlichen abbildenden Voraussetzungen verabschiedet, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt hatten. Mit seinem "Schwarzen Quadrat" artikuliert Malewitsch das neue, radikal emanzipierte Selbstbewußtsein einer autonom gewordenen Kunst.
Diese Bestimmung autonomer Kunst, die den Weg über die Abstraktion durchlaufen hat, gilt auch für neorealistische Darstellungsweisen, denn auch hier ist der abbildende Anspruch aus seiner vorgängigen Selbstverständlichkeit zu einem Formprinzip geworden: Jede "realistische" Darstellung geht auf einen individuellen, künstlerischen Entscheidungsakt zurück, der über diese persönliche Entscheidung hinaus keinerlei Relevanz für Kunst insgesamt reklamieren kann. Das heißt, "Realismus", in welcher Form auch immer (man denke etwa an die "Neue Sachlichkeit"), ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern selbst eine Konstruktionsmöglichkeit innerhalb moderner Kunst.


1912 proklamiert Wassily Kandinsky in seinem Essay "Über die Formfrage" die Äquivalenz der "großen Abstraktion" und der "großen Realistik".[5] Kandinskys Text markiert innerhalb der Geschichte der abendländischen Kunst den Höhepunkt jener Entwicklung weg von bildnerischer Wiedergabe, von Mimesis. Diese Entwicklung oszilliert zwischen zwei Polen.
Den einen Pol bildet die um Formstrenge bemühte Malerei, mit all ihren idealisierenden und stilisierenden Strömungen. Diese Arten von Malerei erfüllen die Sehnsucht nach einer überhöhten Wirklichkeitswiedergabe, die das "Wesen" der Dinge, ein Inneres des Erscheinenden zur Sprache bringen will. Hier reihen sich so Unterschiedliches wie idealisierender Klassizismus, Paul Gauguin, der Expressionismus, schließlich die extremen Formalisierungen der Erscheinungswelt in den Bildern Piet Mondrians in eine gemeinsame bildnerische Entwicklungslinie.
Kandinsky wiederum bildet den Abschluß einer Entwicklung, deren Anfänge in einer um Naturtreue bemühten, "realistischen" Kunst wurzeln. Im Realismus, insbesondere im Naturalismus werden formal-kompositorische Aspekte zurückgestellt, um möglichst exakt Wirklichkeit wiederzugeben. Auf seiner Suche nach einer möglichst realistischen Wiedergabe lenkt der Naturalismus sein Interesse immer mehr auf die Darstellung des Moments, so wie er unserer Wahrnehmung erscheint; er leitet damit eine Verzeitlichung der Bildstruktur ein. Ihren Ausdruck findet diese Verzeitlichung zumeist in einem lockeren Farbauftrag, in skizzenhafter Handzeichnung: Das Dingliche wird flüchtig. Das Erscheinende so wiedergeben, wie es erscheint , impliziert einen immanenten Formverzicht, der – über den Impressionismus – tatsächlich zur Auflösung der Form führt, und zwar in doppelter Weise: in der freien Abstraktion Kandinskys und im äußersten Realismus des Ready-mades und ähnlicher Objektcollagen aus den Werkstätten des Dadaismus. Abstrakte Malerei verzichtet auf den Bezug auf unsere Wahrnehmungswelt und stellt die Gestaltungsmittel selbst dar; die "große Realistik" verzichtet auf die Darstellung und setzt an deren Stelle das Objekt selbst – das Ready-made.
In extremer Verdichtung könnte also mit den Namen Kandinsky, Mondrian und Marcel Duchamp jenes Terrain abgesteckt werden, innerhalb dessen sich die Kunst unseres Jahrhunderts bewegt.


Die Kubisten knüpften wieder enger an der menschlichen Wahrnehmung an. In ihren Bildern gibt es (idealtypisch) eine zunehmende Identifikation des künstlerischen Schaffens mit der Physiologie des Auges. Das heißt, daß moderne Kunst ihre Formen nicht mehr aus einer vorgängigen Realität, sondern auch aus der Wahrnehmung selbst entwickelt. Die einzelnen Formen sind abstrakt und eröffnen eine Unzahl an Möglichkeiten für Bedeutungsfunktionen, je nach ihrer Verwendung.
Zunächst sind die abstrakten Formen noch nicht wirklich gegenstandslos. Sie werden es, wenn sich ihre Wirksamkeit von den konkreten Gegenständen löst und sie zur Gestaltung des Binnenraums des autonomen Bildes dienen. Hier wandelt sich ihre letzte abstrakte Abbildungsfunktion – die der Wahrnehmung selbst – in den Status einer autonomen Bildrealität. Das ist der Objektivitätsanspruch der konkreten Kunst, wie sie von den Zeitgenossen treffend genannt wurde. Kunstgeschichtlich gesehen kulminiert in ihr eine Entwicklung, innerhalb derer jene Werke entstanden, die den Kern der heute "klassisch" genannten Moderne bilden. Wie bereits dargestellt, führt dieser Entwicklungsprozeß dazu, daß nichts mehr selbstverständlich ist in der Kunst.


Die Moderne hat mit einem verpflichtenden Formenkanon – für welche Kunst auch immer – gründlich aufgeräumt. Keinem Material mehr sind, was seinen künstlerischen Gebrauch betrifft, irgendwelche Regeln inhärent, die sich auf kulturelle Konventionen stützen könnten. Salopp formuliert: Ein nach Regeln schielendes "So macht man das nicht", ein "Das ist falsch" gilt für die Kunst nicht mehr. Der entrüstete Einwurf "Das ist ja keine Kunst!" erzeugt unmittelbar ein Argumentationsvakuum, das nicht gefüllt werden kann: Es bleibt bei einer erzürnten Behauptung. Um der Kunst Restriktionen aufzuerlegen, bleiben einzig ethisch-moralisch-religiöse Argumente – man denke etwa an die Diskussionen rund um Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater.


Zurück zum Film. Während sich bildende Kunst ihrem Material zugewandt hatte und die Bedingungen ihrer Gemachtheit mit darzustellen begann, verlief innerhalb der Filmgeschichte der Trend in die entgegengesetzte Richtung: Das Material wurde zunehmend gleichsam "unsichtbar" gemacht, um den Realitätseindruck von Film zu verstärken. Auf Kosten der Wahrnehmung und Reflexion dieses Materials und seiner Gestaltung wurde der Film zum "Fenster zur Welt", wie der französische Filmtheoretiker André Bazin ihn genannt hat. Nicht nur die herrschende Filmpraxis, auch ein großer Teil der Filmtheorie ging lange Zeit vom Realitätseindruck als einer nicht weiter problematisierten Tatsache aus, so, als wäre dies eine dem Film "natürlicherweise" zustehende Funktion. Erst ab 1964, mit dem Einzug einer sprach- und zeichentheoretischer Methoden in die Filmwissenschaft, begannen sich die Perspektiven zu verschieben. Allerdings blieben es weiterhin die Grammatiken des Spielfilms, die untersucht und formalisiert wurden, nicht aber die Möglichkeiten eines Gebrauchs des photographischen Filmbilds jenseits bestehender Regeln.
Das Kunstwerk aus semiotischer Sicht unterscheidet sich von einem referentiellen, "normalen" Sprachgebrauch durch seine Selbstreflexivität und seine Mehrdeutigkeit.[6] Das einzelne Kunstwerk realisiert einen eigenen Code, der von seinem Erzeuger selbst entworfen wurde: einen Idiolekt. Dieses Eigene, Private des Codes läßt die Betrachter genauer blicken, wie das Kunstwerk gemacht ist, um zu erkennen, was es bedeuten könnte. Anstatt eindeutige, referentielle Zuweisungen zwischen den Zeichen und dem Bezeichneten vorzunehmen, läßt die "ästhetische Botschaft" eine Vielzahl an alternativen Wahlen zum Verständnis offen. Auch das Material selbst, aus dem ein Werk geformt ist, wird in seiner technisch-physikalischen Substantialität bedeutsam: diese wird selbst zu einer bedeutungstragenden Instanz.
Die Beziehung zwischen einzelnem Werk und Kultur ist die einer Verweigerung gegenüber standardisierter Erwartungen des Publikums in Bezug auf die verwendeten Codes und Materialien. Die Funktion des Idiolekts ist es, nach der Zerstörung oder Irritation bestehender Codes einen eigenen, originären Kontext bereitzustellen, innerhalb dessen neue Bedeutungen entstehen können.
Was aber heißt es für den Film, mehrdeutige und selbstreflexive Texte zu formulieren? Wenn sich die Kinematographie auf ihre Ausdrucksmaterie hinwendet, um sich als ein Medium moderner, autonomer Kunst zu etablieren, so bedeutet dies, daß sämtliche scheinbaren "Selbstverständlichkeiten", eben auch die technischen, hinterfragbar werden. Die gesamte Apparatur, ihr innerer Aufbau – von der Frequenz des Transportmechanismus über das optische Linsensystem bis hin zum eingelegten Filmmaterial und dessen chemisch-physikalischen Eigenschaften – setzt sich aus Elementen zusammen, die bei einer präzisen Koordinierung untereinander ein Bild produzieren, dem dann konventionellerweise eine "Abbildung der Wirklichkeit" zugeschrieben wird.
Demgegenüber konstituieren die Werke der Avantgarde jene Klasse von Filmen, die die etablierten kinematographischen Codes "falsch" anwenden und so ihre Gültigkeit in Frage stellen. Sie setzen sich als autonome ästhetische Phänomene, die die Auffassung vom Film als eines "Fensters zur Welt" als Ideologie durchschaubar machen, indem sie die Welt hinter jenem "Fenster" als ein Produkt dieses Fensters zu erkennen geben.
Daß der Avantgardefilm als kulturelles Phänomen eine nahezu groteske Randstellung innerhalb der verschiedenen Künste einnimmt, hängt mit einer aggressiven Erwartungshaltung des Publikums bezüglich filmischer Abbildung zusammen. Die Verbindung von eigener Wahrnehmung und jener von konventionalisierten Filmen ist so stark, daß jede Abweichung als Angriff auf die eigene Wahrnehmung und ihre Selbstverständlichkeit erlebt wird. Ein Abweichen von konventionellen filmischen Darstellungsweisen bewegt sich somit an der Grenze zum schier Unverständlichen. Dabei geht es weniger darum, was dargestellt wird, sondern wie dargestellt wird.
Um zu funktionieren (d.h. reibungslos verstanden und als Ware gewinnbringend verkauft werden zu können), bedient sich der Spielfilm des Gerüsts einer Erzählgrammatik. Das bedeutet, daß ein Spielfilm nicht nur seine Geschichte erzählt, sondern immer auch eine bestimmte Weise, eine Geschichte zu erzählen. Es ist diese permanente, unterschwellige Suggestion, wie Film "richtigerweise" auszusehen habe, die jene ausgeprägte Erwartungshaltung des Publikums erzeugt.
Demgegenüber findet sich eine künstlerische Praxis, welches die Kinematographie als Medium eines modernen künstlerischen Gebrauchs etabliert, indem sie vorgegebene Regeln hinterfragt. Wo immer dieser Prozeß Resulate zeitigt, die neue, unerwartete Aspekte sichtbar machen und somit die Artikulationsmöglichkeiten des Mediums erweitern, spricht man – vereinfachend – von "Avantgarde"[7].
Will man einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Avantgarde benennen, der zugleich die Trennlinie zum Kommerz zieht, so ist dies eine spezifische Beschaffenheit der Beziehung, die jeder Film implizit und unvermeidlich zwischen sich und den Betrachtenden herstellt. Die Frage ist: Provoziert der Film eine Identifikation des Betrachters mit dem Blick der Kamera als sei dieser der eigene? Oder gibt sich in den gezeigten Bildern ein "Autor" (wie dies etwa der Maler eines Bildes wäre) zu erkennen? Anders gefragt: Wie präsent ist die Instanz des Erzählers im Film?
In seinem Standardwerk "Film verstehen" vergleicht James Monaco die möglichen Erzählformen des Romans mit denen des Films, und kommt zu dem Schluß, daß im Film "die Person des Erzählers so viel schwächer ist. Es hat zum Beispiel nur einen wichtigen Film gegeben, der versucht hat, die für den Roman so nützliche Ich-Erzählung nachzuahmen, Robert Montgomerys Lady in the Lake (USA 1946). Das Ergebnis war eine verkrampfte, klaustrophobische Erfahrung: Wir sahen nur, was der Held sah."[8]
Unabsichtlich verrät hier Monaco das Prinzip der Erzählhaltung des Spielfilms. Denn die Person des Erzählers im Film ist keineswegs schwächer als die Ich-Form des Romans. Ganz im Gegenteil: Es gibt eine mächtige Instanz der Erzählung im Spielfilm. Diese ist der Betracher selbst – durch seine Identifikation mit dem Blick der Kamera. Im Spielfilm beobachtet die Kamera wie ein unsichtbarer Dritter das Geschehen. Mit ihrer Darstellung, bzw. "Wiedergabe" etabliert sie eine quasi "objektive" Erzählhaltung, hinter der Regisseur, Drehbuchautor etc. verschwinden. In diese Lücke tritt der einzelne Betrachter, indem er sich mit dem Kamerablick identifiziert – als würde er selbst ein stiller Zeuge des Geschehens sein. Damit avanciert er selbst zur Erzählinstanz: Was ich aktuell sehe, erzählt mir niemand – ich "erzähle" es mir selbst.
Die Identifikation mit dem Blick der Kamera läßt den Betrachter zu einem "idealen, immateriellen 'Voyeur' einer filmischen Pseudo-Realität"[9] werden. Zugleich ist diese Identifikation die Grundvoraussetzung für eine glatt funktionierende Erzählung. Der Versuch, wie in Lady in the Lake einen Darsteller mittels sogenannter subjektiver Kamera zur erzählenden Instanz werden zu lassen, führt zur Kollision mit den heimlichen "Erzählern" im Kinosaal. Monacos Wort vom "Klaustrophobischen" trifft gut diese unfreiwillige Vereinigung von Blick des Darstellers mit dem "erzählenden" Blick des Zuschauers.
Um die Identifikation mit dem Kamerablick zu ermöglichen und die Zuschauer mit der Macht von scheinbar allessehenden und alleswissenden Voyeuren auszustatten, müssen bestimmte Regeln befolgt werden. Auf der Leinwand sehen wir ein Licht- und Schattenspiel. Dieses Photonengeflirre hat zunächst nichts gemein mit den Qualitäten jener Wirklichkeit, die wir erkennen. Denn Film reproduziert nicht Wirklichkeit. Film reproduziert Bedingungen der Wahrnehmung von Wirklichkeit.[10] Selbst hier ist der Begriff der "Reproduktion" noch unscharf: Film, insbesondere der erzählende Film, setzt sich zusammen aus einem komplexen System unterschiedlichster Codes, die als Reproduktion der Wahrnehmungsbedingungen von Wirklichkeit akzeptiert werden.[11]
Die Geschichte des (Spiel-)Films ist die Geschichte dieser Codifizierung: auf Seiten der Zuschauer die Bereitschaft, filmische Aufnahmen als Wiedergabe von Wirklichkeit zu lesen; auf Seite des Films die zunehmende Glättung seines Erscheinungsbilds von allen spezifisch filmischen, die Realitätsillusion störenden Elementen.[12]
In der Kunst hingegen gibt sich immer ein Schöpfer – welchen Werks auch immer – zu erkennen, der die Betrachter in einen diskursiven Prozeß einzubeziehen versucht. Oftmals dreht sich dieses "Zwiegespräch" (insbesondere in den Zeiten der klassischen Avantgarde) um die Form des Films, um die Qualitäten des Films als Film. Gerade hier konvergieren die Traditionen der filmischen Avantgarde und jener moderner bildender Kunst, deren Signum der Verweis auf das eigene Gemachtsein, auf den Prozeß der eigenen Herstellung ist (und damit auf einen Herstellenden).


Wie nun realisiert die Avantgarde ihre künstlerische Autonomie im Umgang mit dem filmischen Material?
Als erstes Beispiel sei eine aktuelle Tendenz innerhalb des avantgardistischen Filmschaffens herangezogen: die Arbeit mit "gefundenen" Aufnahmen, der Found-Footage-Film. Im Found-Footage-Film wird bereits belichtetes Material zu neuen Werken umgestaltet.
Auch hier wird jene fundamentale Tradition moderner Kunst fortgeführt, künstlerisch das Besondere, das Eigentliche des jeweiligen Mediums herauszuarbeiten. In vielen Werken der klassischen Avantgarde wurde das Künstliche der (so "natürlich" wirkenden) filmischen Repräsentation insgesamt hervorgehoben. In dieser Pseudonatürlichkeit geht dem Filmmaterial vieles vom Eigenen verloren; es verbirgt sich in der Transparenz des Produkts. "Transparenz" meint, daß es durch sich hindurch auf etwas anderes verweist: auf das, was es darstellt. Found Footage ist eine effiziente Art der "Re-Materialisierung" von Film. Wer eine Einstellung aus ihrem Kontext reißt und ihr auf diese Art den eindeutigen Sinn nimmt, lenkt den Blick zurück auf die materiale Oberfläche.
Mittlerweile hat sich der Fokus der künstlerischen Aufmerksamkeit verschoben. Im zeitgenössischen Found-Footage-Film dienen primär die jeweiligen, spezifischen Inhalte der Filmbilder als Ausgangspunkte der Auseinandersetzung. Found Footage zeigt in seinen Brechungen, wie wir im Film der Wirklichkeit scheinbar natürlichen Sinn zuzuschreiben gelernt haben. Insofern etabliert Found Footage filmische Abbildungsprozesse selbst als künstlerisches Ausgangsmaterial: Es abstrahiert von den vorgefundenen Bedeutungen, die in den Bildern sich eingeschrieben finden, indem es eine Metaebene aufbaut, von der aus latente oder neue Bedeutungen erkennbar werden.
Damit wird der fiktive Charakter der originalen Bildwelten unterlaufen. Die Fiktion hat immer behauptenden Charakter. Um als Fiktion funktionieren zu können, braucht der Film ein Publikum, das zustimmt: mit einem "Ja, so könnte es sein (auch wenn wir wissen, daß es so nicht wirklich geschehen ist)". Der Konjunktiv dieser heimlichen Übereinkunft verdichtet sich während des Filmsehens zu einem "So ist es". Das Vertrauen ins Eigene der Wahrnehmung, in die eigene Interpretation von Welt wird vom fiktiven Film in der Regel nicht in Frage gestellt – und von diesem Vertrauen in den eigenen Blick nährt sich die Fiktion.
Gemessen daran realisiert der avantgardistische Film – viel stärker noch als der Dokumentarfilm – die Version eines nicht-fiktionalen Kinos. Filmkunst versucht sich einer eigenen Sicht der Dinge zu nähern, ohne diese Sicht zu einer "Glaubwürdigkeit" zu bündeln. Kurz gesagt: Der avantgardistische Film behauptet nicht, er will nicht, daß man ihm glaubt.
Freilich führt dies nicht zu einer Beliebigkeit von Sinn. Film ist (als künstlich hergestelltes Produkt) per se intentional und als intentionales Produkt Träger von Sinn.[13 ]Was aber der künstlerische Film sichtbar werden läßt, ist die Konstruktion von Sinn. Gerade dort, wo kein eindeutiger Sinn vom Werk selbst vorgegeben wird, kann man sich selbst bei der (Re-)Konstruktion von Sinn beobachten.
Gerade im Found-Footage-Film, wo sich fiktionale und avantgardistische Filmtraditionen berühren, lassen sich deren Differenzen deutlich darstellen. Als Beispiel gewählt sei Sharon Sanduskys Film C'mon Babe (Danke schoen) (USA 1988).
Das optische Material zu C'mon Babe (Danke schoen) ist zur Gänze einem von Walt Disney produzierten Dokumentarfilm der 50er-Jahre über Lemminge entnommen. Man sieht den berühmten Zug der Lemminge in den kollektiven Selbstmord. Die Grundstruktur dieses 12minütigen Films sind Wiederholungen, ähnlich einer Spirale. Sehr bald schon sieht man erste Todessprünge über eine Steilküste ins Meer, Sandusky schneidet aber immer wieder zurück zur flinken Schar der possierlichen Lemminge, die unbekümmert über die karstige Landschaft huschen. Vom Originalton übernimmt Sandusky einzelne Sätze. Ein männlicher Sprecher kommentiert sachlich einen absurd anmutenden Ablauf: "It's not given to man to understand und so nature herself takes a hand. And so is acted out the legend of a mass suicide." Das wirklich dominante Element im Soundtrack bleibt die ebenfalls schleifenartig wiederholte rhythmische und melodische Grundfigur eines Schlagers mit dem Refrain "Danke schön, Darling, danke schön, save those lies, Darling, don't explain", gesungen mit müder Stimme von einer Sängerin, die etwas zynisch den Abschied vom untreuen Liebhaber intoniert. Diese musikalische Hauptfigur wird in der Folge von Fragmenten einiger anderer Schlager durchsetzt.
Die optischen und akustischen Kombinationen von C'mon Babe (Danke schoen) lassen das Verhalten der Tiere als Metapher für menschliches Agieren erscheinen. Wir sehen und hören die Wiederholung des Immergleichen. Die wenigen neuen Elemente, die zwischen den Repetitionen eingesetzt werden, bilden nur minimale Variationen. Mit formaler Sparsamkeit entfaltet Sharon Sandusky eine poetische Metaebene, die mit Witz und Ironie menschliches Liebesleben und Liebesleid kommentiert. Von dieser neuen Leseebene aus lassen sich die Elemente des Originalfilms uminterpretieren. Sandusky bietet uns eine Matrix an, innerhalb derer alle Teile des Dokumentarfilms neu decodiert werden können. Da der Code selbst verändert wurde, funktioniert der Originalfilm nicht mehr als Behauptung "So ist die Welt (der Lemminge)". Die Betrachter von C'mon Babe (Danke schoen) verlassen jenen imaginären Ort, der vormals von den Disney-Studios entworfen worden war, damit das Publikum vorkonstruierten Sinn nachzuvollzieht. Statt dessen gerät nun dieses Publikum selbst in die Position von Sinnproduzenten. So kann etwa der grellbunte Abendhimmel hinter den Lemmingen zum Träger eigener Assoziationsketten werden, die mit den irrwitzig schönen Farben frühen Technicolors tief in die Erinnerung an jene künstlichen Liebesparadiese zurückgeleiten, die uns je von der Leinwand herab berührt haben.
Daß private Sinnproduktion dieser Art sich nicht in Beliebigkeit verliert, dafür sorgt die formale Stringenz des Werks. Dessen Stimmigkeit, seine klare Form gibt sich als künstliches Produkt zu erkennen, als etwas Gewolltes, das sich in seiner Künstlichkeit von der Pseudonatürlichkeit der Fiktion unterscheidet. Diese Freiheit, die das Künstliche im Unterschied zur imaginären "Natürlichkeit" gewährt, erweitert das Bedeutungsfeld der jeweiligen Bilder. Bereits das Unnatürliche der repetitiven Grundstruktur des Films verändert den Blick auf die Herde drolliger Tierchen. Unwillkürlich wird die Frage provoziert: "Wie ist das gemeint?"
Und wir beginnen zu interpretieren. So könnte etwa die Unterschiedslosigkeit, die scheinbare Eingeschlechtlichkeit der Lemminge auf die Suche nach der Differenz gehen lassen. Quer durch den Film ist sie vorhanden. Sie tarnt sich allerdings gut, weil sie gefährlich zu sein scheint. Im "danke schön" der Sängerin steckt bereits der Verweis auf sprachliche und somit kulturelle Differenzen. Aber auch das Wehmütige des weiblichen Gesangs und die sachliche Stimmlage des männlichen Kommentators klaffen auseinander. Und dem ganz Anderen gehört das Finale des Films. Von oben senkt es sich herab, dieses Andere, mit ausgebreiteten Armen, dazwischen etwas Langes, Spitzes, das tödlich sein wird: Vögel greifen die Lemminge an. Möwen, Raben, Elstern jagen den Tierchen nach und hacken sich mit ihren Schnäbeln genußvoll ihre Mahlzeit zurecht. Jene Abwärtsbewegungen der angreifenden Vögel und des Sprungs von der Klippe finden wir auch im Refrain eines weiteren Liedes: "C'mon, c'mon, c'mon!" fordert, sich ständig wiederholend, ein Sänger in abfallender Melodie, und "Babe!" ruft ein anderer immer wieder dazwischen. Ein fataler Gesang der Sirenen. Doch es wird weitergehen: "There remains that small handful that did not make the journey, and in time, new generations will take the place of those that have been lost."
Found Footage wird in der Filmkunst schon lange verwendet; im Vorfeld der Avantgarde angesiedelt sind die Filme des Engländers Adrian Brunel – Crossing the Great Sagrada – und des Belgiers Henri Storck – L'Histoire Du Tombeau Inconnu, beide 1931 entstanden. Der Neuseeländer Len Lye begann in den 30er Jahren seine "hand made films" auf Found Footage zu zeichnen. 1936 schuf der Amerikaner Joseph Cornell mit Rose Hobart ein Meisterwerk des Found-Footage-Films. Sein Landsmann Bruce Conner hat praktisch sein Gesamtwerk aus Found Footage destilliert.
Wenn wir die Kunst unseres Jahrhunderts mit den Namen der Pioniere Duchamp, Kandinsky und Mondrian abgesteckt haben, so wurzelt die Ästhetik des Found-Footage-Films in den Collagen und Ready-mades Marcel Duchamps und der Dadaisten. Als Beispiele für Filme, die sich in ihrer Gestaltung eher dem Werk Kandinskys bzw. Mondrians zuordnen ließen, seien zwei Filme des Österreichers Kurt Kren (1929–1998) gewählt.
Kurt Kren zählte zur kleinen Gilde der Grundlagenforscher der Filmkunst. Sein internationaler Durchbruch kam 1966 mit dem "Destruction in Art"-Symposion in London, unter anderem mit seinen Filmen über die Aktionskunst von Otto Mühl und Günter Brus. Beide, Brus wie Mühl, verzichteten auf das Tafelbild und verwendeten den menschlichen Körper als zentrales Ausdrucksmittel ihrer Kunst. Diese augenfällige Gemeinsamkeit verdeckt ein wenig das grundsätzlich Unterschiedliche ihrer Aktionen. Da ist zunächst Günter Brus, der sich mit seinem grandiosen Pathos in die Tradition des Expressionismus reiht. Auch die Weise, wie er Farbe verwendet, beläßt ihr eine zentrale Funktion als Bindeglied zwischen Körper, umgebendem Raum und dessen Begrenzungsflächen. Mühl hingegen ist der Dadaist des Aktionismus. Sein Realismus verzichtet auf den expressiv aufgeladenen, doppelten Boden einer eigenen Zeichenwelt (wie das Verbandsmull, die Skalpelle, Scheren, Rasierklingen, Reißnägel bei Brus). Mühls inszenierte Happenings sind schwungvoll bewegte Stilleben aus Menschen, Objekten, Farben, Abfällen, Lebensmitteln, jedoch ohne symbolische oder allegorische Anspielungen. Dort, wo Brus das Leiden des Kreatürlichen in Szene setzt, sucht Mühl den Spaß an der Sache.

Inmitten dieser beiden aktionistischen Kontrastprogramme taucht Kurt Kren auf – und er reagiert mit frappanter Unterschiedlichkeit. Seit seinem zweiten Film – 2/60 48 Köpfe aus dem Szondi-Test (1960) – hatte Kren sein Material seriellen Regeln folgend organisiert.[14] Der mimetischen Fülle des Filmmaterials setzte er spröde Mathematik entgegen. So wurden etwa die Längen einzelner Einstellungen (gemessen in Einzelbildern) von der Summe der beiden vorangegangenen Einstellungen bestimmt: Nach einem einzelnen Filmbild folgten zwei, dann drei, fünf, acht, 13, 21, schließlich 34 Kader als längste Einstellung. Alle diese frühen Filme wurden – mittels Einzelbildschaltung – bereits in der Kamera montiert. Wirklich nachhaltig in die Filmgeschichte eingewirkt hat Kren mit seiner Kurzschnitt-Technik, die er ab seinem fünften Film – 5/62 Fenstergucker, Abfall, etc. (1962) – mit Schnitten bis hin zum einzelnen Kader entwickelte. Auch hier folgte die Abfolge der Kader seriellen, in Partituren festgelegten Reihenschemen.
Es ist dieses serielle Kurzschnittverfahren, das Kren den Aktionen des "Realisten" Mühl entgegenhält. Im Unterschied zu einer Einzelbild-Montage in der Kamera ermöglicht der reale Schnitt eine wesentlich stärkere Formalisierung innerhalb der Abfolge der Bilder. Eine Einzelbildschaltung vor der Natur, wie etwa in 3/60 Bäume im Herbst (1960), kennt keine Wiederholung, jedes Bildchen zeigt eine neue Ansicht; im ersten Aktionsfilm hingegen – 6/64 Mama und Papa (1964) – verschachtelt Kren mittels Schnitt jede Menge kontinuierlicher Aufnahmen ineinander; leitmotivisch wird immer wieder zu signifikanten Aufnahmen zurückgekehrt, sind quer durch den Film kreisförmige Bewegungen und Vernetzungen hergestellt. In penibler Kleinstarbeit verwebt Kren den Furor, der sich vor seiner Optik auftat, zu geometrischen Figuren der Verdichtung. Alternierende Schuß/Gegenschuß-Sequenzen, die zwischen einzelnen (!) Kadern hin und her springen, ornamentalisieren den aktionistischen Tumult zu (zeitlich) strengen geometrischen Mustern, wie sie einst Mondrian (räumlich) auf die Leinwand zu bannen pflegte.
Und dann Krens erster Film mit Günter Brus: 8/64 Ana – Aktion Brus (1964). Der expressive Duktus, mit dem Kren sich konfrontiert sieht, läßt ihn Serialität und Kurzschnitt verwerfen. Er antwortet mit "großer Abstraktion". Dem Brus'schen Pathos korrespondiert nun eine freie, gestische Kameraführung, mit der Kren tachistisch aufgelöste Bilder auf den Filmstreifen pumpt. Hatte der Kurzschnitt die Mühl-Aktionen zum Rasen gebracht, sicherte ihnen die repetitive Montage dennoch die Erkennbarkeit eines bewegten Ornaments. Die Einzelbildschaltung, mit der Krens handschriftartig geführte Kamera die Aktion von Brus aufzeichnet, drückt diese nahezu unter die Schwelle der Erkennbarkeit; und mehr noch als Ana flottiert 10b/65 Silber – Aktion Brus (1965) frei im Vorgegenständlichen gestischer Spuren. Hält Kren seine Kamera ausnahmsweise etwas ruhiger, dann zeigt er sich weniger an der Aktion als an den abstrakten Fährten des Malakts interessiert: den Farbspritzern an den Wänden des Ateliers.
Dort also, wo der Dadaist Mühl einen ins Extrem gesteigerten Naturalismus zelebriert, reagiert Kren mit Verdichtungsstrategien, wie sie bei Mondrian, aber auch im Expressionismus zu finden waren; jedoch konfrontiert mit dem Expressionismus in den Aktionen von Brus, fegt Kren mit "großer Abstraktion" à la Kandinsky das Feld frei von bedeutungsschwangeren Zeichen.
Ernst Schmidt jr. (1938-1988), ein zentraler Vertreter der zweiten Generation des österreichischen Avantgrdefilms, dokumentierte ebenfalls Aktionen von Otto Mühl. Doch Schmidt erarbeitete sich – verglichen mit Kren – eine völlig eigenständige Bearbeitungsweise seiner Aufnahmen. Sein erster Film mit Otto Mühl, Bodybuilding (1965/66), über dessen gleichnamige Aktion Nr. 19 sowie Nr. 18, "Rumpsti-Pumpsti/Schießscheibe", läßt bereits erkennen, wie die Entwicklung nach den Filmen von Kurt Kren weitergehen wird: An die Stelle der genau kalkulierten Schnitt-Strategien von Kren tritt – parallel zum extremen Einsatz des Körpers innerhalb der Mühl'schen Aktion – eine chaotisch-anarchische Materialorganisation. Schmidt montiert Blankfilm in die Aufnahmen, setzt Positiv- und Negativfilm gleichwertig ein, Fehlbelichtungen werden beibehalten, und auf der Tonspur findet sich eine rabiate Klangcollage, aus der noch zusätzlich mit einem Magneten Teile herausgelöscht wurden. Kren konkurrierte, Schmidt destruierte. Bodybuilding liest sich wie die Formulierung eines ästhetischen Programms, das zur Vernichtung des traditionellen Kinos führen will.
Auch Schmidts nächster Film, 15. Mai 1966 (1966), läßt sich mit einigem Goodwill noch als Dokumentarfilm interpretieren. Sein Thema ist eine Fahrt von Schwechat nach Wien am genannten Tag. Schmidt wählt also kein Objekt der Darstellung, nur mehr einen zeitlich fixierten Anlaß zum Filmen. Den Anfang bilden Negativaufnahmen von Menschen, die sich am Rand eines Felds darauf vorbereiten, einen Film zu drehen. Dazu akustische Hinweise wie "Ton ab!" und "Kamera läuft", "Achtung!", die quer durch den Film wiederholt werden, als würde immer wieder ein Anlauf unternommen, endlich ordentlich anzufangen. Zu sehen ist, was zu sehen war, wobei Schmidt nicht einmal mehr versucht, Charakteristisches der Wegstrecke festzuhalten. Details irgendwelcher verwaschener Reklamewände erregen sein Interesse viel stärker. Und nachdem es Nacht geworden ist, bleiben nur mehr die Schlieren bunter Neonlichter, über die seine Kamera wild drüberschwenkt.
Einszweidrei
(1965-68) setzt sich aus den drei im Titel angezeigten Teilen zusammen. Es überwiegen Aufnahmen diverser Mühl-Aktionen, zum Teil mit exzessiven Mehrfachbelichtungen, die das Treiben Mühls nur mehr erahnen lassen. Gekoppelt wird die Materialschlacht mit Found Footage: einem Dokumentarfilm über Blasmusik mit einer Menge trachtentragender junger Männer, die mit kritischem Kennerblick höchst aufmerksam das Treiben Mühls zu goutieren scheinen; Valie Export führt den auf allen Vieren kriechenden Peter Weibel an einer Hundeleine zum Äußerln in die Wiener Innenstadt; konsequenterweise begleitet von Found Footage über eine Hundezuchtanstalt; dazu Aufnahmen von Autos, Ampeln, Straßenpassanten. Erstmals richtet sich der destruktive Gestus gegen das Filmmaterial selbst: Schmidt zeichnet und malt direkt auf den Filmstreifen, allerdings ohne erkennbare gestalterische Ansprüche. Es dominieren dicke Filzstiftstriche, die hemmungslos über die Bildinhalte gelegt sind. An manchen Stellen ist der Filmstreifen der Länge nach durchschnitten und leicht versetzt aneinandergeklebt, dann wieder sind Löcher hineingestanzt. Dazu Teile, die üblicherweise jeden Film begleiten, allerdings nie projiziert werden, wie handschriftliche Vermerke des Kopierwerks, Startbänder, diverses Vorspannmaterial.
Die Filmreste (1966) bilden den Höhepunkt der hier skizzierten Bewegung in Richtung Abstraktion. Der Ton setzt sich zusammen aus einer Gospel-Phrase ("...and a thing called love. Ooouh....!"), einigen Sätzen aus einer Nachrichtensendung ("...bewegen sich die israelischen Panzerkolonnen.... südlich liegenden Wüstenpiste..."), einem einzelnen, ständig wiederholten Klavierakkord, diversen Brumm- und Störgeräuschen, sowie Schmidt selbst, der dreistellige Zahlengruppen ansagt. Die Bilder, Filmreste wie es der Titel verspricht, bewegen sich zum Teil an der Grenze des Erkennbaren, zum Teil sind sie tatsächlich mit Farbstiften, verschiedenen ätzenden Flüssigkeiten und anderen direkten Eingriffen unkenntlich gemacht. Filmschicht und Trägermaterial sind hier endgültig zum Material, zum physischen Objekt transformiert. Einzig verbliebene Bedingung: Der Streifen muß noch durch die Kopiermaschine laufen können.
In den Filmresten findet seinen Abschluß, was Kurt Kren begonnen hatte. Dieser war in seinen Aktionsfilmen weit über das Dokumentarische hinausgegangen und hatte eigene Kunstwerke parallel zu den Aktionen geschaffen. Gerade die außerordentliche Durchgestaltung der Filme verlieh ihnen eine Aura, die in Konkurrenz zum Abgebildeten treten mußte. Gerade weil man die Filme als Dokumentationen hätte mißverstehen können, reklamierten sie die Eigenständigkeit des Films als autonomer Kunstform. Dennoch ist in ihnen eine Balance gewahrt, die ihr Verhältnis zu den Materialhappenings als Dialog gestaltet. Ernst Schmidt jr. ging einen Schritt weiter: den einer vollständigen Emanzipation des Films von einer irgendwie noch darzustellenden Außenwelt.

Auch aus kunstgeschichtlicher Perspektive betrachtet wurzelt der avantgardistische Film ganz unmittelbar im Bereich bildender Kunst. Es waren bildende Künstler, aus denen sich die frühe Filmavantgarde rekrutierte, die im Umfeld des Futurismus und Kubismus aufgetauchte Fragen nach der Korrespondenz von Raum und Zeit mit dem jungen Medium Film lösen wollten; eine Künstlergeneration, die durch die Schule des Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Dadaismus gegangen war. Die Bilder waren geometrisch und seriell geworden, als sich in Deutschland Walther Ruttmann, Viking Eggeling, Oskar Fischinger und Hans Richter daran machten, die Apparatur des Kinos für ihre Rollenzeichnungen zu verwenden. Programmatisch ist der Titel Opus I, den Ruttmann 1919 verwendete, um damit den ersten abstrakten Film der Geschichte zu benennen. Die manisch betriebene Suche nach einer reinen und universalen Sprache der Formen inspirierte die Symphonie Diagonale Eggelings, an der er von 1920 bis 1924 gearbeitet hat.
Zeitgleich waren es auch in Frankreich bildende Künstler – Marcel Duchamp, Man Ray, Fernand Léger und Henri Chomette –, die mit abstrakten oder verfremdeten Aufnahmen ihre Filme herstellten. Gemeinsam hatten Duchamp und Man Ray um 1920 mit den Nitratstreifen zu experimentieren begonnen. Für Le Retour à la Raison (1923) streute Man Ray Gewürze, Nadeln, Reißnägel auf das Negativ, belichtete es und setzte seine "Rayogramme" in Bewegung. Légers und Dudley Murphys Ballet Mécanique zählt seit 1924 zu den Inkunabeln des "Cinéma pur", wie die Zeitgenossen es nannten. 1925 vollendete Marcel Duchamp sein Anémic Cinema und Henri Chomette veröffentlichte Jeux des reflets et de la vitesse und Cinq minutes de cinéma pur. Innerhalb weniger Jahre hatte die Avantgarde sich etabliert.
Um autonom zu werden, mußte bildende Kunst sich gegen ihre eigene Geschichte wenden: gegen alle von außen verordneten Regeln, die in Gestalt gesellschaftlich-kultureller Konventionen an sie herangetragen wurden. In einem ähnlichen Prozeß lehnte sich die filmische Avantgarde gegen die Hegemonie kommerziellen Filmschaffens auf. Mit der Emanzipation der filmischen Form wurden die Elemente des Films aus vorfabrizierten Zusammenhängen gelöst und für sich als künstlerisches Ausdrucksmaterial zugänglich gemacht. Derselbe Prozeß, der die Ordnung tradierter Normen innerhalb der bildenden Kunst aufhob, ließ auch in den Filmen der Avantgarde die Elemente der Kinematographie einer freien, künstlerischen Konstruktion zugänglich werden. Damit wurde das Artikulationsniveau moderner Kunst erreicht, das Medium Film als autonome Kunst etabliert.

Quelle: Sixpack Film (Hg.), "An der Front der Bilder. Kinematographie als Kunst", Katalog, Wien 1998

Weiterführende Literatur:

Jeanpaul Georgen, Walther Ruttmann.
Eine Dokumentation, Berlin 1989

Birgit Hein/Wulf Herzogenrath, Film als Film. 1910 bis heute, Katalog des Kölnischen Kunstvereins, 1977

Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst.
Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 31987

Alexander Horwath/Lisl Ponger/Gottfried Schlemmer (Hg.),
Avantgardefilm. Österreich 1950 bis heute, Wien 1995

Gabriele Jutz/Peter Tscherkassky (Hg.),
Peter Kubelka, Wien 1995

Hans Scheugl (Hg.), Ex Underground.
Kurt Kren, seine Filme, Wien 1996

Norbert Schmitz, Kunst und Wissenschaft im Zeichen der Moderne.
Exemplarische Studien zum Verhältnis von klassischer Avantgarde
und zeitgenössischer Kunstgeschichte in Deutschland: Hölzel, Wölfflin,
Kandinsky, Dvorák; Bonn 1993

P. Adams Sitney, Visionary Film. The American Avant-Garde 1943–1978,
Oxford/New York 1979

Peter Tscherkassky, Psychoanalyse und Film – Zur Theorie des imaginären Signifikanten,
in: W. Donner (Hg.), Moderne Labyrinthe: Frauenbilder – Kinowelten – Aufklärungsphantasien,
Peter Lang Verlag, Frankfurt/M, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1992

Holger Wilmesmeier, Deutsche Avantgarde und Film:
Die Filmmatinee "Der absolute Film" (3. und 10. Mai 1925), Münster/Hamburg 1994

  1

1783 in "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?"

  2

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Den Beginn von Moderne markieren zu wollen, hieße einen Strich in fließendem Wasser ziehen; ihre Wurzeln reichen in die Zeit des Spätmittelalters zurück.

  3

Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 91988., S. 17-206.

  4

Eine der Inkunabeln des avantgardistischen Films, die Symphonie Diagonale (1925) von Viking Eggeling, verdankt sich der manischen Suche ihres Schöpfers nach solch einer universalen Formensprache.

  5

Die nächsten Absätze folgen den Ausführungen von Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 31987.

  6

vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 145-167

  7

Freilich findet dieser Prozeß auch innerhalb der Gattung des Spielfilms statt; um diese im Hinblick auf die hier versuchte Evaluierung eines prinzipiellen Kunstniveaus zu beurteilen, müßte der Untersuchungsansatz enorm erweitert werden. Wenn hier von "Spielfilm" die Rede ist, sind jene kommerziellen Produktionen gemeint, die zuvorderst erzeugt werden, um Gewinn abzuwerfen.

  8

James Monaco, Film verstehen, Reinbeck b. Hamburg 21995, S. 47.

  9

Noël Burch, Jorge Dana, Propositions, in: Afterimage No. 5 (1974), S. 45.

10

vgl. Eco, a.a.O., S. 213: "Das ikonische [photographische, filmische] Zeichen konstituiert (...) ein Modell von Beziehungen (unter graphischen Phänomenen), das dem Modell der Wahrnehmungsbeziehungen homolog ist, das wir beim Erkennen und Erinnern des Gegenstandes konstruieren. Wenn das ikonische Zeichen mit irgendetwas Eigenschaften gemeinsam hat, dann nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes. Es ist konstruierbar und erkennbar auf Grund derselben geistigen Operationen, die wir vollziehen, um das Perzept zu konstruieren, unabhängig von der Materie, in der sich die Beziehungen verwirklichen."

11

So stellt etwa der abrupte Wechsel des Sichtbaren nach jedem einzelnen Schnitt eine Erfahrung dar, wie wir sie aus unserer Alltagswahrnehmung nicht kennen. Dennoch sind mittlerweile auch ausgefallenste Montagestrategien so weit konventionalisiert, daß sie als Wiedergabe eines Raum-Zeit-Kontinuums akzeptiert werden. Der Schnitt und der damit verbundene Wechsel wird als Wechsel einfach nicht wahrgenommen.

12

Dazu zählen etwa das Verbot des Achsensprungs, des Jump-cuts, das Gebot fließender Einstellungsübergänge im zeitlichen Ablauf, der horizontalen Abbildung aller Waagrechten im Raum und vieles mehr.

13

Selbst ein absichtlich "sinnlos" gestalteter Film wäre absichtlich sinnlos, sein Sinn wäre (zumindest) der "Versuch der Herstellung von Sinnlosigkeit".

14

Zur ausführlichen Analyse des ersten, prä-seriellen Films 1/57: Versuch mit synthetischem Ton siehe Tscherkassky, Peter: Die rekonstruierte Kinematographie. In: Alexander Horwath/Lisl Ponger/Gottfried Schlemmer (Hg.), Avantgardefilm. Österreich 1950 bis heute,

Wien 1995, S. 41-44