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Gabriele Jutz
Die Physik des Sehens
Zu Peter Tscherkasskys Film "Parallel
Space: Inter-View"
"Parallel Space: Inter-View" wurde mit
dem Fotoapparat hergestellt. Das Negativ eines Bildes einer 24x36
Kleinbildkamera entspricht exakt der Größe von zwei Filmbildern.
Wird das Negativ eines Fotos projiziert, sieht man zwei Filmkader.
Bei einem hochkant geknipsten Foto wird zuerst die obere, dann die
untere Hälfte des Bildes projiziert.
Mit diesem Film wandte sich Peter Tscherkassky dem Perspektivsystem
der Renaissance zu, so wie es über Jahrhunderte die Malerei
dominierte, um schließlich von Foto und Film übernommen
zu werden. Das Hauptcharakteristikum der Perspektive liegt darin,
daß sie der Wahrnehmung des blickenden Subjekts angeglichen
ist. Über den vom Fluchtpunkt geleiteten Blick beherrscht der
Betrachter scheinbar das Gesehene. Während die Malerei mit
dem Beginn der Moderne diesen illusionistischen Bildraum wieder
verließ, bedeutet er für die Kinematografie bis heute
eine nahezu unhinterfragte Grundbedingung.
Ursprünglich plante Tscherkassky einen strikt formalen Film
ganz in der anti-illusionistischen Tradition der Avantgarde, um
zwischen Publikum und Film ein neues Verhältnis, ähnlich
dem in der bildenden Kunst, zu ermöglichen.
Tatsächlich unterläuft der Film innerhalb und mittels
des genormten optischen Systems dieses subversiv, zerschlägt
das homogene Raumbild und verwebt seine Fluchtlinien ineinander.
Daß es ist kein Formalismus geblieben ist, das belegt die
Wahl der Themen. Es geht um das Gedächtnis und seine Bildwelten,
um den von der Erinnerung produzierten, psychoanalytisch erfahrbaren
inneren Film, um Fernseh-, Computer- und Kinobilder. Im Verlauf
des Films werden die beiden Raumhälften mit Bedeutung aufgeladen.
Sie sind getrennt und doch simultan: simultan auf Grund ihrer Entstehung
im Fotoapparat, getrennt durch die Projektion im Kino. Dieses zugleich
Getrennte und Simultane wird zur Metapher für die parallelen
Welten des Blickenden und des Gesehenen, von Publikum und Künstler,
von Mann und Frau, aber auch für die Distanz zwischen Gegenwart
und eigener Geschichte.
"Parallel Space: Inter-View" beginnt mit
Schwarzfilm, auf der Tonspur hört man das Rascheln von Papier.
Eine männliche Off-Stimme setzt ein: "This is the message
he left: 'Dear Tim! Thanks for the use of your space. I'm in a hurry,
I have to go right away. Here is the new film. It's finished at
last, as you can see. Originally it was going to be a strictly structural
one, but it turned out to be one of the most personal I've made.
Basically what I've tried to do was to...'" Während dieser
letzten Worte wird der Ton ausgeblendet. Eine Hand, an der das hier
verwendete Negativfilmmaterial erkennbar wird, schiebt eine rechteckige
weiße Fläche von unten ins Bild. Dies bewirkt einen starken,
für das Auge beinahe schmerzhaften Flickereffekt, da sich nun
von Kader zu Kader jeweils eine weiße und eine schwarze Fläche
abwechseln. Das Flickern macht nicht nur den Filmstreifen, sondern
auch den Kinosaal sichtbar, der sich mit dem pumpenden Licht, das
von der Leinwand kommt, zu füllen scheint.
Die gesprochenen Worte, insbesondere der Satz "This is the
message he left", beziehen sich auf den Film, der dem Zuschauer
in der Folge präsentiert wird, auf die Abwesenheit des Künstlers
und auf die Anwesenheit eines (lesenden/blickenden) Publikums. Außerdem
wird der "geliehene" Raum angesprochen, eine Metapher
für das Kino selbst. Insgesamt täuscht die verbale Aussage,
prominent an den Filmanfang gestellt, das Vorhandensein einer Story
vor, während das, was wir sehen, dieser Suggestion massiv widerspricht.
Ein figuratives Bild will sich nicht einstellen, der Übergang
von repräsentativ zu nicht-repräsentativ vollzieht sich
vor unseren Augen, immer aufs Neue wiederholt. Dadurch wird die
Wiedergabe von Realität eines der Hauptmerkmale des
traditionellen Kinos in Frage gestellt.
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Auf die weiße
Fläche, deren Seitenverhältnis mit 1: 1,33 dem einer
klassischen Kinoleinwand entspricht, wird das Wort "Physics"
geschrieben. Danach schiebt die Hand das Blatt nach oben aus
dem Bild - wodurch es im zweiten Bildraum sichtbar wird und
dort liegenbleibt. Das im Filmtitel angelegte "Parallel
Space" wird hier erstmals visuell nachvollziehbar. Die
Grundthemen des Films werden in dieser Art über die Kommunikation
zwischen den beiden benachbarten Raumhälften ausgetragen.
Auf ein weiteres Blatt wird "The Physics of Seeing"
geschrieben. Das erste Blatt "Physics"
scheint wie eine leicht flickernde Doppelbelichtung über
der schreibenden Hand zu schweben. Der Flickereffekt ist nun
abgeschwächt, da in beiden Bildräumen weiße
Flächen zu sehen sind.
Auf ein drittes Blatt schreibt die Hand "The Physics of
Memory". Zum synchronen Akt des Sehens gesellt sich nun
die Diachronie des Erinnerns. Etwa in dem Augenblick, wo das
Wort "Memory" auftaucht, hört man verkehrt abgespielte
Sprachaufnahmen. Die Rückwärtsgewandtheit der Erinnerung
findet auf diese Weise ihre akustische Verankerung.
Mit der nächsten Sequenz treten wir in den imaginären
Raum der Elektronik ein. Der handwerkliche,"physische"
Akt des Schreibens und das Papier sind nun durch einen Computerbildschirm
ersetzt, auf dem in Laufschrift "All I remember is:"
erscheint. Mit diesem Satz suggeriert Tscherkassky erneut den
Beginn einer Geschichte. Das folgende "I was looking for
you" profitiert von der Doppelbedeutung des englischen
Verbs "to look for somebody". Es bedeutet sowohl "jemanden
suchen" die private, intime Ebene des Films ,
als auch "statt jemandem blicken" die öffentliche
Ebene. Es ist natürlich der Filmemacher, der an Stelle
des Zuschauers geblickt hat und es ist das Resultat dieses Blicks,
das er nun öffentlich präsentiert. Für einen
kurzen Moment taucht die Tastatur über dem Bildschirm auf.
Sie repräsentiert den Fundus der Buchstaben, aus dem alle
Geschichten geschrieben sind, die Elemente des Codes noch vor
seiner Anwendung.
Als visuellen Kontrapunkt zu einer verklärten, purifizierten
Erinnerung zeigt die folgende, dem Akt des Erinnerns gewidmete
Passage Bilder voller Staub- und Schmutzpartikel, die Tscherkassky
beim Positiventwickeln auf den Filmstreifen transferiert hat
zugleich eine flagrante Verletzung der Sauberkeitsregeln
des Kinos, wie wir es gewohnt sind, und dennoch ein Teil seiner
Identität gegenüber dem Video.
Zu sehen sind Negativ- und Positivaufnahmen von einer Couch
und einem Fauteuil, die jeweils mit schwarzen bzw. weißen
Tüchern verhängt wurden und so, trotz Positiv und
Negativ, die gleichen Helligkeitswerte haben. Couch und Fauteuil
repräsentieren das Setting der Psychoanalyse, innerhalb
dessen strukturell ident der Situation im Kino
jemand (Analytiker/Publikum) aufmerksam den disparaten Bildern
einer intimen Geschichte folgt. Quer durch den Film "Parallel
Space: Inter-View" bringt Tscherkassky Positiv- und Negativmaterial
zum Kommunizieren, wobei er das Negativ wie das "Unbewußte"
des Films einsetzt: als "dunklen" Untergrund, auf
dem und aus dem die Bilder des Kinos erst entstehen.
In einem Spiegel, wiederum im Seitenformat 1 : 1,33, sieht man
ein Fenster, was wie eine Verdichtung der gegensätzlichen
Theoreme von André Bazin "Das Kino ist ein offenes
Fenster auf die Welt" und von Christian Metz "Die
Leinwand ist ein Spiegel" wirkt. Als nächstes taucht
der Filmemacher selbst im Spiegel auf. Wie ein bewegtes Bild
scheint er zwischen Fauteuil und Couch zu schweben. Die Kamera
fährt auf diesen Spiegel zu, bis das Objektiv seine Oberfläche
berührt. Dieses "Eindringen" in die Welt der
(Spiegel-)Bilder wird akustisch von einem Klavierakkord begleitet.
Die Monitorlaufschrift setzt fort: "I tried to follow,
but I stumbled as that point vanished. I fell." Bei "as
that" scheint der Monitor durch den Raum und auf den Boden
zu fallen. In dieser Passage lotet "Parallel Space: Inter-View"
die metaphorische Dichte des englischen "vanishing point"
(Fluchtpunkt) aus. Es ist ein Punkt der Orientierung, der, wenn
er verschwindet (vanishes), zum Stolpern bringt. Die Kamera
zieht sich von der Spiegeloberfläche wieder in den Raum
zurück. Dazu ist erneut der Klavierakkord, nun aber rückwärts,
zu hören, so, als wären wir auf seiner "anderen"
Seite angelangt, als Alice im verkehrten Land. Der Spiegel,
in dem man wieder den Filmemacher erkennt, ist nun rund und
konvex ein Zitat des berühmten Bildes von Parmigianino,
"Selbstporträt im Konvexspiegel", das für
die Kunstgeschichte den Beginn des Manierismus markiert, der
die klare zentralperspektivische Raumkonzeption der Renaissance
auflöste.
Mit ständigen Auf- und Abwärtsschwenks fährt
die Kamera in den Raum zurück. Seine Hälften schieben
sich ineinander. Mit zunehmender Entfernung wird der Spiegel,
der zwischen den Bildhälften hin und her gleitet, immer
punktähnlicher. Schließlich verschwindet er in jenem
nicht sichtbaren Balken, der auf einem 35mm-Filmstreifen die
Kader (und hier die Hälften des Raumes) voneinander trennt.
Dann, gleichsam wie eine ferne Erinnerung, noch einmal eine
frühe zentralperspektivische Abbildung: "La Città
ideale", die als Fotogramm zwischen den Bildteilen hin-
und hergeschoben wird.
Mit der Laufschrift "I fainted, got lost somewhere in between"
wird der Verlust des Fluchtpunkts als Verlust einer, wenngleich
auch trügerischen Sicherheit beklagt. "When I became
conscious there was no body. You seemed to watch." Diese
letzte Zeile bekräftigt nicht nur die Scheinhaftigkeit
des Sehens (zwischen "you see" und "you seemed"
wird eine Nähe hergestellt, indem die Buchstabengruppe
"med" erst nach einiger Zeit sich dem "see"
hinzufügt), sondern sie leitet auch zur Figur der Frau
über, die in der nächsten Einstellung den Filmemacher
durch ein Fenster von draußen zu beobachten scheint. Nicht
als Körper ist sie präsent ("no body"),
sondern als Blick.
Erzählt wird diese neue Episode, deren Thema die sexuelle
Differenz ist, durch Kombination eigener Aufnahmen mit Found
Footage. Zwei Monitore sind übereinander in den parallelen
Räumen geschichtet. Auf einem läuft eine Sequenz aus
Elia Kazans "Wild River", wo das Motiv der Begegnung
der Geschlechter exemplarisch durchgespielt wird. Auf dem anderen
sind Aufnahmen jener blickenden Frau. Sie hält einen Spiegel,
in dem der Filmemacher, sie filmend, zu erkennen ist. Das klassische
Dispositiv der blickenden Kamera, gerichtet auf das Schauobjekt
"Frau", ist hier gehörig verschoben. Statt dessen
wird dem Blickobjekt selbst die Möglichkeit und Potenz
des eigenen Blicks belassen.
Die beiden getrennten Bildräume sind nun als weiblicher
und männlicher Bereich definiert. Nur für einen kurzen
Augenblick nähern sie sich an, indem die Frau in den Bildraum
des Mannes eindringt. Unmittelbar darauf drängt sich die
Erinnerung an die Zeit des ödipalen Konflikts in Gestalt
eines vielleicht siebenjährigen Knaben zwischen Mann und
Frau. Nun wird dieser zum Träger des Blicks und des Gesehenen/Erlebten,
das zu einer Re-Inszenierung der Urszene gerät.
Der nächste und letzte Schritt führt uns noch ein
Stück weiter zurück, in die frühkindliche Zeit,
in jene des "Phantasmas des zerstückelten Körpers"
(Melanie Klein/Jacques Lacan), die noch vor der Bildung eines
Gefühl von Identität, also noch vor dem sogenannten
"Spiegelstadium" liegt. Die zerschellten Großaufnahmen
eines schreienden Babies fügt Tscherkassky in Bilder ein,
auf denen man einen Geschlechtsverkehr eher erahnt denn erkennt.
Die zentralperspektivische Raumaufnahme ist ebenso trügerisch
wie das Spiegelbild, das dem Kleinkind ein ideales, identitätsstiftendes
Bild seiner selbst vermittelt. "Parallel Space: Inter-View"
verortet beide, den homogenen Raum wie auch das mit sich selbst
identische Subjekt im Bereich der Erinnerung, behandelt diesen
aber mit Ambivalenz. Es ist ein Film über die Zersetzung
von vormals Festgefügtem. Und es ist der Film selbst, der
an dessen Auflösung arbeitet. Ein Rest von Sehnsucht bleibt
bestehen. |
Ödipus oder Die Liebe zur Geometrie
Gabriele Jutz
im Gespräch mit Peter Tscherkassky
Jutz: Warum gerade jetzt ein Film, der sich
mit dem perspektivischen Abbilden beschäftigt?
Tscherkassky: Ich kann mich noch genau erinnern,
wie ich die Idee zu "Parallel Space" hatte. Das war während
irgendeiner Filmvorführung bei der Berlinale 1985. Damals habe
ich mich intensiv mit der Wiedergabe von Raum in der Malerei beschäftigt,
und zwar das ganze Mimesis-Problem von der Höhlenmalerei über
die Griechen bis hin zu Cezanne. Diese Studien sind dann in meine
Dissertation über Filmästhetik hineingekommen.
Kurz vorher hatte ich "Manufraktur" gemacht, einen Film,
den ich mit Found Footage in der Dunkelkammer hergestellt habe,
wo ich 35mm Streifen direkt auf unbelichtetes Material umkopierte,
und da habe ich bemerkt, daß das 24x36-Negativ einer Kleinbildkamera
so groß ist wie zwei Kinokader. In "Manufraktur"
sind schon ein paar kurze Sequenzen aus dem Fotoapparat.
Jedenfalls wollte ich mit "Parallel Space" die Frage der
perspektivischen Raumwiedergabe abhandeln, indem ich die "richtige"
Optik ein bißchen "falsch" verwende, also ich fotografiere
korrekt und ich projiziere korrekt, und dennoch entsteht dieser
zerschlagene Raum, in den man eben nicht mehr einsteigen kann, vor
dem man draußen bleibt, aber man blickt zwischen die beiden
neu entstandenen Räume. Deshalb dieses "Inter-View"
im Titel. Das soll aber auch die bi-polare Struktur des ganzen Films
anzeigen, das Interview als Dialog.
Jutz: Also liegen zwischen der Konzeption
des Films und seiner Fertigstellung acht Jahre?
Tscherkassky: Die ersten Aufnahmen habe ich
1988 gemacht. Aber ich war damit unzufrieden, habe das meiste wieder
verworfen, neu begonnen, war wieder unzufrieden, habe lange Pausen
eingeschaltet und immer wieder wie von vorne begonnen. Heute besteht
der Film aus vielen "geologischen" Schichten. So nenne
ich die Sequenzen, die ich in den Phasen seiner Entstehung akzeptiert
und verwendet habe. Gleichzeitig hat das seine Kontinuität
geschaffen, denn ich habe bei den neuen Aufnahmen auf das zuletzt
Gedrehte reagiert, und mich in die Erinnerung, bzw. ins Alter der
jeweiligen Erfahrungen immer weiter zurückgefilmt.
Jutz: "Parallel Space" wird im gesprochen
Text als sehr persönlicher Film eingeführt. Wie läßt
sich Dein Interesse am Formalen mit dieser privaten Ebene verbinden?
Tscherkassky: Die ersten Aufnahmen habe ich
in einer U-Bahn-Station gemacht, wegen der langen und klaren Fluchtlinien,
die es dort gibt. Das hat zwar interessant ausgesehen, mehr aber
nicht. Ich habe dann sehr bald damit angefangen, die beiden Raumteile
inhaltlich zu interpretieren, also diese binären Strukturen
einzubringen, die unser Leben prägen. Ab dann ist es wirklich
spannend geworden. Statt eines geometrischen Films begann ich einen
Film über die Geometrie der Liebe machen.
Für die älteste Sequenz, die heute im Film
drinnen ist, habe ich so eine Psychoanalyse-Couch und einen Analytiker-Stuhl
aufgebaut und das mit zwei Fahrten umkreist, von links in Negativ
und von rechts in Positiv. Ich wollte diese Nähe zwischen Psychoanalyse
und Filmsehen und Filmherstellen als Ausgangspunkt nehmen und dann
die wichtigsten Punkte in der eigenen Entwicklung rückwärtsgewandt
ansteuern, also an den Linien der Sexualität entlang zurück
über den Ödipus bis zum Säugling. Das ist die historische,
diachrone Ebene. Am Abbildungsprozeß selber war mir wichtig,
daß hier eine räumliche und auch zeitliche Einheit zerlegt
wird, weil das Foto ja zwei Raumteile zeigt, die im selben Augenblick
fotografiert worden sind. Das habe ich als das Synchrone zwischen
mir selbst und der Außenwelt interpretiert und zwischen der
Jetzt-Zeit und der Erinnerung.
Jutz: Ist der gesamte Film mit dem Fotoapparat
hergestellt?
Tscherkassky: Im Prinzip ja. Aber ich habe
auch mit Super 8 gefilmt, und zwar mit einer hochkant gestellten
Kamera und dann die Filmkader fotografiert. So habe ich auch kontinuierliche
Bewegungen in den Film hineingebracht.
Einige Teile habe ich auch von Film auf Video überspielt und
dann das Video Bild für Bild weitertransportiert und einzeln
vom Monitor abfotografiert. Das hab ich überall dort gemacht,
wo ich soetwas wie Entfremdung zeigen wollte, also überall
dort, wo uns das Bild schon näher zu sein scheint als die Wirklichkeit.
Distanz und Nähe ist eines der Hauptthemen von "Parallel
Space". Bei einer Sequenz habe ich ursprünglich mit Super
8 hochkant gefilmt, wo in der unteren Bildhälfte ein Mann auf
dem Bett liegt, während im Hintergrund, in der oberen Hälfte,
sich eine Frau entkleidet. Das habe ich Kader für Kader abfotografiert
und die Fotostreifen auf Video überspielt. Dann habe ich den
Monitor fotografiert, so daß er eine Bildhälfte füllt
und die andere dunkel gelassen und immer nur jeden zweiten Kader
im Monitor, nämlich immer nur die Frau fotografiert. Man sieht
einfach einen Bildschirm, auf dem sich eine Frau auszieht. Und dann
habe ich immer wieder kurz auf den Film zurückgeschnitten,
exakt im Bewegungsfluß der Frau, und da springt das Bild dann
zurück und zeigt plötzlich auch den Mann auf dem Bett,
wie er zur Frau hinschaut. Das wirkt so, als würde sein Blick
die Frau zum Bild werden lassen, zum Bild im Monitor, und nur ganz
kurz werden wir an seinen Raum erinnert, daß auch er da ist.
Jutz: Wer ist "er"?
Tscherkassky: Er, das ist der Blickende, der
sich in seinem Blick von sich selbst und der Welt entfremden kann.
Die Angst des Voyeurs, des Filmemachers...
Jedenfalls ist das ein Beispiel, wie ich quer durch den Film seine
formale Struktur inhaltlich interpretiert habe.
Jutz: Der Monitor ist eines der häufigsten
Bildmotive in "Parallel Space". Inwieweit ist das Verhältnis
von Film und Video ein Thema?
Tscherkassky: Als Steve Anker, der Leiter
der Cinematheque San Francisco, den Film in einer frühen Version
am Schneidetisch gesehen hat, hat er gesagt, daß ich großes
Talent habe, das Physische von Film spürbar werden zu lassen.
Anker kennt alle meine Filme, insofern habe ich mich über diese
Bemerkung sehr gefreut. Dieses Physische, die Körperhaftigkeit,
das Angreifbare des Filmstreifens, das ist mir wirklich wichtig,
und das fehlt mir beim Video. Bei "Parallel Space" habe
ich mit allen Formaten gearbeitet, und habe jeden einzelnen Kader
in der Hand gehabt und tatsächlich gespürt, und ich hoffe,
daß ich diese besondere Qualität von Film auch vermitteln
konnte.
Auch der Flicker-Effekt ist einer, den es nur im Kino geben kann.
Das geht auf einem Monitor nicht. Mit der Zeit beginnt das leicht
in den Augen zu schmerzen, und deshalb habe ich die Anfangssequenz
so gestaltet: nur Schwarz und Weiß, die Grundelemente von
Film, das soll das Publikum spüren, wie das durch den Raum
pulsiert. Dieses Physische macht für mich das Kino aus. Obwohl
ich mich schon 1981, in "Aderlaß", mit diesen beiden
Polen des Lichts beschäftigt habe, und das ist weitergegangen
bis "tabula rasa" von 1987, auch dieser Film beginnt mit
völligem Schwarz und endet im reinen Weiß.
Jutz: Hängt "Parallel Space: Inter-View"
sonst noch mit "tabula rasa" zusammen?
Tscherkassky: Ganz direkt. Das geht hin bis zu dem
Spiegel, den ich hier verwendet habe, das ist derselbe wie in "tabula
rasa". Bloß war der Blick auf die Frau in "tabula
rasa" ein völlig anderer. Maureen Turim hat als Kritik
dazu gemeint, daß hier die Frau als Schauobjekt fetischisiert
wird, und das stimmt natürlich, obwohl diese Fetischisierung
in"tabula rasa" als Metaebene erfahrbar ist. Jedenfalls
habe ich in "Parallel Space" den Blick der Frau zurück
auf die Kamera gesucht, den Blick auf das, was sie sieht und was
sonst verborgen bleibt, nämlich auf den Filmemacher beim Herstellen
seiner Bilder.
Außerdem wollte ich keine Ästhetik des Fetischs mehr.
Deshalb ist dieser Film viel rauher an seiner Oberfläche. Ich
habe fast das meiste Material selber entwickelt, mit sehr grobem
Korn, das ist russisches Super 8 Material in tschechischen Chemikalien
entwickelt, und der 35mm Film ist auf Polyesterbasis, ein Material,
das in Banken zur Überwachung verwendet wird, also auch nicht
grad das Neueste aus den Eastman-Laboratories.
Jutz: Gibt es etwas Neues, das Du formal und
inhaltlich mit "Parallel Space" Deinem bisherigen uvre
hinzufügen konntest? Siehst Du diesen Film als Weiterentwicklung
Deiner Arbeit?
Tscherkassky: Ich habe
schon früher Fotos in Filmen verwendet, aber diesmal habe ich
wirklich etwas vom Verhältnis zwischen dem einzelnen Bild und
dem Filmstreifen zeigen können. Man sieht ja mehrere Sequenzen
zweimal, weil diese Hand, die am Anfang die Wörter schreibt,
später einzelne Kaderserien nochmals als Fotos zeigt.
Das ist wieder in Negativ gefilmt und die Hand hält
Negativabzüge, die dann positiv erscheinen. Im ganzen Film
ist das Negativ immer als der eigentliche Hintergrund präsentiert,
aus dem alles herauswächst und der nochmals kommentiert, was
aus ihm herausgekommen ist. Man sieht, wie der Film aus diesen Bildern
zusammengesetzt ist, und wieviel jedes einzelne erzählen kann,
zum Beispiel, wie bei der "Wild River"-Passage Montgomery
Clift sich im Moment, wo ihm Lee Remick um den Hals fällt,
genau fünf Kader lang widerwillig abwendet. Und am Schluß
des Films, da lege ich zwei Fotogramme aus der Anfangslaufschrift
"I was looking for you" in die beiden Bildhälften,
und zwar die Teile "I was" und "for you", daraus
wird ein flickerndes "I was for you" und dann schreibe
ich nochmals auf einen Zettel "looking" und lege das über
das "I was" und es entsteht "looking for you"
und dann verdecke ich mit "looking" noch das "for
you" und die Hand schiebt in Zeitlupe das "looking"
aus dem Bild und zurück bleibt wieder das reine Schwarz vom
Beginn. Das sind Sequenzen, die ich liebe.
Insgesamt war dieser Film eine Zangengeburt. Denn es gab auch Zeiten,
da habe ich ihn gehaßt, aber ich habe immer gewußt,
daß er einmal fertig sein würde, und heute halten ihn
viele Leute, auf deren Urteil ich zähle, für meinen besten
Film.
Quelle: blimp Zeitschrift für Film, Heft
22/23, Graz 1993
Gabriele Jutz studierte Romanistik und Geschichte
in Salzburg sowie Filmwissenschaft in Paris (Metz, Aumont, Colin);
Dissertation über Geschichtsbilder im französischen Kino;
Forschungsprojekt des FWF: "Frauen im Film"; Lehraufträge
an den Universitäten Salzburg und Wien; 1991 Professur für
Film an der FU Berlin; Mitarbeit beim Forschungsprojekt "Inter-
und intrakulturelle Kommunikation" der Akademie der Wissenschaften
(Bereich: nationale Präsentationsformen im französischen
und österreichischen TV); zahlreiche Publikationen im Bereich
Filmtheorie, -geschichte und Semiotik. Unterrichtet Filmanalyse und
Filmgeschichte an der Universtität für Gestaltung, Wien.
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