Gabriele Jutz

Die Physik des Sehens
Zu Peter Tscherkasskys Film "Parallel Space: Inter-View"

"Parallel Space: Inter-View" wurde mit dem Fotoapparat hergestellt. Das Negativ eines Bildes einer 24x36 Kleinbildkamera entspricht exakt der Größe von zwei Filmbildern. Wird das Negativ eines Fotos projiziert, sieht man zwei Filmkader. Bei einem hochkant geknipsten Foto wird zuerst die obere, dann die untere Hälfte des Bildes projiziert.
Mit diesem Film wandte sich Peter Tscherkassky dem Perspektivsystem der Renaissance zu, so wie es über Jahrhunderte die Malerei dominierte, um schließlich von Foto und Film übernommen zu werden. Das Hauptcharakteristikum der Perspektive liegt darin, daß sie der Wahrnehmung des blickenden Subjekts angeglichen ist. Über den vom Fluchtpunkt geleiteten Blick beherrscht der Betrachter scheinbar das Gesehene. Während die Malerei mit dem Beginn der Moderne diesen illusionistischen Bildraum wieder verließ, bedeutet er für die Kinematografie bis heute eine nahezu unhinterfragte Grundbedingung.
Ursprünglich plante Tscherkassky einen strikt formalen Film ganz in der anti-illusionistischen Tradition der Avantgarde, um zwischen Publikum und Film ein neues Verhältnis, ähnlich dem in der bildenden Kunst, zu ermöglichen.
Tatsächlich unterläuft der Film innerhalb und mittels des genormten optischen Systems dieses subversiv, zerschlägt das homogene Raumbild und verwebt seine Fluchtlinien ineinander.
Daß es ist kein Formalismus geblieben ist, das belegt die Wahl der Themen. Es geht um das Gedächtnis und seine Bildwelten, um den von der Erinnerung produzierten, psychoanalytisch erfahrbaren inneren Film, um Fernseh-, Computer- und Kinobilder. Im Verlauf des Films werden die beiden Raumhälften mit Bedeutung aufgeladen. Sie sind getrennt und doch simultan: simultan auf Grund ihrer Entstehung im Fotoapparat, getrennt durch die Projektion im Kino. Dieses zugleich Getrennte und Simultane wird zur Metapher für die parallelen Welten des Blickenden und des Gesehenen, von Publikum und Künstler, von Mann und Frau, aber auch für die Distanz zwischen Gegenwart und eigener Geschichte.

"Parallel Space: Inter-View" beginnt mit Schwarzfilm, auf der Tonspur hört man das Rascheln von Papier. Eine männliche Off-Stimme setzt ein: "This is the message he left: 'Dear Tim! Thanks for the use of your space. I'm in a hurry, I have to go right away. Here is the new film. It's finished at last, as you can see. Originally it was going to be a strictly structural one, but it turned out to be one of the most personal I've made. Basically what I've tried to do was to...'" Während dieser letzten Worte wird der Ton ausgeblendet. Eine Hand, an der das hier verwendete Negativfilmmaterial erkennbar wird, schiebt eine rechteckige weiße Fläche von unten ins Bild. Dies bewirkt einen starken, für das Auge beinahe schmerzhaften Flickereffekt, da sich nun von Kader zu Kader jeweils eine weiße und eine schwarze Fläche abwechseln. Das Flickern macht nicht nur den Filmstreifen, sondern auch den Kinosaal sichtbar, der sich mit dem pumpenden Licht, das von der Leinwand kommt, zu füllen scheint.
Die gesprochenen Worte, insbesondere der Satz "This is the message he left", beziehen sich auf den Film, der dem Zuschauer in der Folge präsentiert wird, auf die Abwesenheit des Künstlers und auf die Anwesenheit eines (lesenden/blickenden) Publikums. Außerdem wird der "geliehene" Raum angesprochen, eine Metapher für das Kino selbst. Insgesamt täuscht die verbale Aussage, prominent an den Filmanfang gestellt, das Vorhandensein einer Story vor, während das, was wir sehen, dieser Suggestion massiv widerspricht. Ein figuratives Bild will sich nicht einstellen, der Übergang von repräsentativ zu nicht-repräsentativ vollzieht sich vor unseren Augen, immer aufs Neue wiederholt. Dadurch wird die Wiedergabe von Realität – eines der Hauptmerkmale des traditionellen Kinos – in Frage gestellt.



Auf die weiße Fläche, deren Seitenverhältnis mit 1: 1,33 dem einer klassischen Kinoleinwand entspricht, wird das Wort "Physics" geschrieben. Danach schiebt die Hand das Blatt nach oben aus dem Bild - wodurch es im zweiten Bildraum sichtbar wird und dort liegenbleibt. Das im Filmtitel angelegte "Parallel Space" wird hier erstmals visuell nachvollziehbar. Die Grundthemen des Films werden in dieser Art über die Kommunikation zwischen den beiden benachbarten Raumhälften ausgetragen.
Auf ein weiteres Blatt wird "The Physics of Seeing" geschrieben. Das erste Blatt – "Physics" – scheint wie eine leicht flickernde Doppelbelichtung über der schreibenden Hand zu schweben. Der Flickereffekt ist nun abgeschwächt, da in beiden Bildräumen weiße Flächen zu sehen sind.
Auf ein drittes Blatt schreibt die Hand "The Physics of Memory". Zum synchronen Akt des Sehens gesellt sich nun die Diachronie des Erinnerns. Etwa in dem Augenblick, wo das Wort "Memory" auftaucht, hört man verkehrt abgespielte Sprachaufnahmen. Die Rückwärtsgewandtheit der Erinnerung findet auf diese Weise ihre akustische Verankerung.
Mit der nächsten Sequenz treten wir in den imaginären Raum der Elektronik ein. Der handwerkliche,"physische" Akt des Schreibens und das Papier sind nun durch einen Computerbildschirm ersetzt, auf dem in Laufschrift "All I remember is:" erscheint. Mit diesem Satz suggeriert Tscherkassky erneut den Beginn einer Geschichte. Das folgende "I was looking for you" profitiert von der Doppelbedeutung des englischen Verbs "to look for somebody". Es bedeutet sowohl "jemanden suchen" – die private, intime Ebene des Films –, als auch "statt jemandem blicken" – die öffentliche Ebene. Es ist natürlich der Filmemacher, der an Stelle des Zuschauers geblickt hat und es ist das Resultat dieses Blicks, das er nun öffentlich präsentiert. Für einen kurzen Moment taucht die Tastatur über dem Bildschirm auf. Sie repräsentiert den Fundus der Buchstaben, aus dem alle Geschichten geschrieben sind, die Elemente des Codes noch vor seiner Anwendung.
Als visuellen Kontrapunkt zu einer verklärten, purifizierten Erinnerung zeigt die folgende, dem Akt des Erinnerns gewidmete Passage Bilder voller Staub- und Schmutzpartikel, die Tscherkassky beim Positiventwickeln auf den Filmstreifen transferiert hat – zugleich eine flagrante Verletzung der Sauberkeitsregeln des Kinos, wie wir es gewohnt sind, und dennoch ein Teil seiner Identität gegenüber dem Video.
Zu sehen sind Negativ- und Positivaufnahmen von einer Couch und einem Fauteuil, die jeweils mit schwarzen bzw. weißen Tüchern verhängt wurden und so, trotz Positiv und Negativ, die gleichen Helligkeitswerte haben. Couch und Fauteuil repräsentieren das Setting der Psychoanalyse, innerhalb dessen – strukturell ident der Situation im Kino – jemand (Analytiker/Publikum) aufmerksam den disparaten Bildern einer intimen Geschichte folgt. Quer durch den Film "Parallel Space: Inter-View" bringt Tscherkassky Positiv- und Negativmaterial zum Kommunizieren, wobei er das Negativ wie das "Unbewußte" des Films einsetzt: als "dunklen" Untergrund, auf dem und aus dem die Bilder des Kinos erst entstehen.
In einem Spiegel, wiederum im Seitenformat 1 : 1,33, sieht man ein Fenster, was wie eine Verdichtung der gegensätzlichen Theoreme von André Bazin "Das Kino ist ein offenes Fenster auf die Welt" und von Christian Metz "Die Leinwand ist ein Spiegel" wirkt. Als nächstes taucht der Filmemacher selbst im Spiegel auf. Wie ein bewegtes Bild scheint er zwischen Fauteuil und Couch zu schweben. Die Kamera fährt auf diesen Spiegel zu, bis das Objektiv seine Oberfläche berührt. Dieses "Eindringen" in die Welt der (Spiegel-)Bilder wird akustisch von einem Klavierakkord begleitet. Die Monitorlaufschrift setzt fort: "I tried to follow, but I stumbled as that point vanished. I fell." Bei "as that" scheint der Monitor durch den Raum und auf den Boden zu fallen. In dieser Passage lotet "Parallel Space: Inter-View" die metaphorische Dichte des englischen "vanishing point" (Fluchtpunkt) aus. Es ist ein Punkt der Orientierung, der, wenn er verschwindet (vanishes), zum Stolpern bringt. Die Kamera zieht sich von der Spiegeloberfläche wieder in den Raum zurück. Dazu ist erneut der Klavierakkord, nun aber rückwärts, zu hören, so, als wären wir auf seiner "anderen" Seite angelangt, als Alice im verkehrten Land. Der Spiegel, in dem man wieder den Filmemacher erkennt, ist nun rund und konvex – ein Zitat des berühmten Bildes von Parmigianino, "Selbstporträt im Konvexspiegel", das für die Kunstgeschichte den Beginn des Manierismus markiert, der die klare zentralperspektivische Raumkonzeption der Renaissance auflöste.
Mit ständigen Auf- und Abwärtsschwenks fährt die Kamera in den Raum zurück. Seine Hälften schieben sich ineinander. Mit zunehmender Entfernung wird der Spiegel, der zwischen den Bildhälften hin und her gleitet, immer punktähnlicher. Schließlich verschwindet er in jenem nicht sichtbaren Balken, der auf einem 35mm-Filmstreifen die Kader (und hier die Hälften des Raumes) voneinander trennt.
Dann, gleichsam wie eine ferne Erinnerung, noch einmal eine frühe zentralperspektivische Abbildung: "La Città ideale", die als Fotogramm zwischen den Bildteilen hin- und hergeschoben wird.
Mit der Laufschrift "I fainted, got lost somewhere in between" wird der Verlust des Fluchtpunkts als Verlust einer, wenngleich auch trügerischen Sicherheit beklagt. "When I became conscious there was no body. You seemed to watch." Diese letzte Zeile bekräftigt nicht nur die Scheinhaftigkeit des Sehens (zwischen "you see" und "you seemed" wird eine Nähe hergestellt, indem die Buchstabengruppe "med" erst nach einiger Zeit sich dem "see" hinzufügt), sondern sie leitet auch zur Figur der Frau über, die in der nächsten Einstellung den Filmemacher durch ein Fenster von draußen zu beobachten scheint. Nicht als Körper ist sie präsent ("no body"), sondern als Blick.
Erzählt wird diese neue Episode, deren Thema die sexuelle Differenz ist, durch Kombination eigener Aufnahmen mit Found Footage. Zwei Monitore sind übereinander in den parallelen Räumen geschichtet. Auf einem läuft eine Sequenz aus Elia Kazans "Wild River", wo das Motiv der Begegnung der Geschlechter exemplarisch durchgespielt wird. Auf dem anderen sind Aufnahmen jener blickenden Frau. Sie hält einen Spiegel, in dem der Filmemacher, sie filmend, zu erkennen ist. Das klassische Dispositiv der blickenden Kamera, gerichtet auf das Schauobjekt "Frau", ist hier gehörig verschoben. Statt dessen wird dem Blickobjekt selbst die Möglichkeit und Potenz des eigenen Blicks belassen.
Die beiden getrennten Bildräume sind nun als weiblicher und männlicher Bereich definiert. Nur für einen kurzen Augenblick nähern sie sich an, indem die Frau in den Bildraum des Mannes eindringt. Unmittelbar darauf drängt sich die Erinnerung an die Zeit des ödipalen Konflikts in Gestalt eines vielleicht siebenjährigen Knaben zwischen Mann und Frau. Nun wird dieser zum Träger des Blicks und des Gesehenen/Erlebten, das zu einer Re-Inszenierung der Urszene gerät.
Der nächste und letzte Schritt führt uns noch ein Stück weiter zurück, in die frühkindliche Zeit, in jene des "Phantasmas des zerstückelten Körpers" (Melanie Klein/Jacques Lacan), die noch vor der Bildung eines Gefühl von Identität, also noch vor dem sogenannten "Spiegelstadium" liegt. Die zerschellten Großaufnahmen eines schreienden Babies fügt Tscherkassky in Bilder ein, auf denen man einen Geschlechtsverkehr eher erahnt denn erkennt.
Die zentralperspektivische Raumaufnahme ist ebenso trügerisch wie das Spiegelbild, das dem Kleinkind ein ideales, identitätsstiftendes Bild seiner selbst vermittelt. "Parallel Space: Inter-View" verortet beide, den homogenen Raum wie auch das mit sich selbst identische Subjekt im Bereich der Erinnerung, behandelt diesen aber mit Ambivalenz. Es ist ein Film über die Zersetzung von vormals Festgefügtem. Und es ist der Film selbst, der an dessen Auflösung arbeitet. Ein Rest von Sehnsucht bleibt bestehen.



Ödipus oder Die Liebe zur Geometrie
Gabriele Jutz im Gespräch mit Peter Tscherkassky

Jutz: Warum gerade jetzt ein Film, der sich mit dem perspektivischen Abbilden beschäftigt?

Tscherkassky: Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Idee zu "Parallel Space" hatte. Das war während irgendeiner Filmvorführung bei der Berlinale 1985. Damals habe ich mich intensiv mit der Wiedergabe von Raum in der Malerei beschäftigt, und zwar das ganze Mimesis-Problem von der Höhlenmalerei über die Griechen bis hin zu Cezanne. Diese Studien sind dann in meine Dissertation über Filmästhetik hineingekommen.
Kurz vorher hatte ich "Manufraktur" gemacht, einen Film, den ich mit Found Footage in der Dunkelkammer hergestellt habe, wo ich 35mm Streifen direkt auf unbelichtetes Material umkopierte, und da habe ich bemerkt, daß das 24x36-Negativ einer Kleinbildkamera so groß ist wie zwei Kinokader. In "Manufraktur" sind schon ein paar kurze Sequenzen aus dem Fotoapparat.
Jedenfalls wollte ich mit "Parallel Space" die Frage der perspektivischen Raumwiedergabe abhandeln, indem ich die "richtige" Optik ein bißchen "falsch" verwende, also ich fotografiere korrekt und ich projiziere korrekt, und dennoch entsteht dieser zerschlagene Raum, in den man eben nicht mehr einsteigen kann, vor dem man draußen bleibt, aber man blickt zwischen die beiden neu entstandenen Räume. Deshalb dieses "Inter-View" im Titel. Das soll aber auch die bi-polare Struktur des ganzen Films anzeigen, das Interview als Dialog.

Jutz: Also liegen zwischen der Konzeption des Films und seiner Fertigstellung acht Jahre?

Tscherkassky: Die ersten Aufnahmen habe ich 1988 gemacht. Aber ich war damit unzufrieden, habe das meiste wieder verworfen, neu begonnen, war wieder unzufrieden, habe lange Pausen eingeschaltet und immer wieder wie von vorne begonnen. Heute besteht der Film aus vielen "geologischen" Schichten. So nenne ich die Sequenzen, die ich in den Phasen seiner Entstehung akzeptiert und verwendet habe. Gleichzeitig hat das seine Kontinuität geschaffen, denn ich habe bei den neuen Aufnahmen auf das zuletzt Gedrehte reagiert, und mich in die Erinnerung, bzw. ins Alter der jeweiligen Erfahrungen immer weiter zurückgefilmt.

Jutz: "Parallel Space" wird im gesprochen Text als sehr persönlicher Film eingeführt. Wie läßt sich Dein Interesse am Formalen mit dieser privaten Ebene verbinden?

Tscherkassky: Die ersten Aufnahmen habe ich in einer U-Bahn-Station gemacht, wegen der langen und klaren Fluchtlinien, die es dort gibt. Das hat zwar interessant ausgesehen, mehr aber nicht. Ich habe dann sehr bald damit angefangen, die beiden Raumteile inhaltlich zu interpretieren, also diese binären Strukturen einzubringen, die unser Leben prägen. Ab dann ist es wirklich spannend geworden. Statt eines geometrischen Films begann ich einen Film über die Geometrie der Liebe machen.



Für die älteste Sequenz, die heute im Film drinnen ist, habe ich so eine Psychoanalyse-Couch und einen Analytiker-Stuhl aufgebaut und das mit zwei Fahrten umkreist, von links in Negativ und von rechts in Positiv. Ich wollte diese Nähe zwischen Psychoanalyse und Filmsehen und Filmherstellen als Ausgangspunkt nehmen und dann die wichtigsten Punkte in der eigenen Entwicklung rückwärtsgewandt ansteuern, also an den Linien der Sexualität entlang zurück über den Ödipus bis zum Säugling. Das ist die historische, diachrone Ebene. Am Abbildungsprozeß selber war mir wichtig, daß hier eine räumliche und auch zeitliche Einheit zerlegt wird, weil das Foto ja zwei Raumteile zeigt, die im selben Augenblick fotografiert worden sind. Das habe ich als das Synchrone zwischen mir selbst und der Außenwelt interpretiert und zwischen der Jetzt-Zeit und der Erinnerung.

Jutz: Ist der gesamte Film mit dem Fotoapparat hergestellt?

Tscherkassky: Im Prinzip ja. Aber ich habe auch mit Super 8 gefilmt, und zwar mit einer hochkant gestellten Kamera und dann die Filmkader fotografiert. So habe ich auch kontinuierliche Bewegungen in den Film hineingebracht.
Einige Teile habe ich auch von Film auf Video überspielt und dann das Video Bild für Bild weitertransportiert und einzeln vom Monitor abfotografiert. Das hab ich überall dort gemacht, wo ich soetwas wie Entfremdung zeigen wollte, also überall dort, wo uns das Bild schon näher zu sein scheint als die Wirklichkeit.
Distanz und Nähe ist eines der Hauptthemen von "Parallel Space". Bei einer Sequenz habe ich ursprünglich mit Super 8 hochkant gefilmt, wo in der unteren Bildhälfte ein Mann auf dem Bett liegt, während im Hintergrund, in der oberen Hälfte, sich eine Frau entkleidet. Das habe ich Kader für Kader abfotografiert und die Fotostreifen auf Video überspielt. Dann habe ich den Monitor fotografiert, so daß er eine Bildhälfte füllt und die andere dunkel gelassen und immer nur jeden zweiten Kader im Monitor, nämlich immer nur die Frau fotografiert. Man sieht einfach einen Bildschirm, auf dem sich eine Frau auszieht. Und dann habe ich immer wieder kurz auf den Film zurückgeschnitten, exakt im Bewegungsfluß der Frau, und da springt das Bild dann zurück und zeigt plötzlich auch den Mann auf dem Bett, wie er zur Frau hinschaut. Das wirkt so, als würde sein Blick die Frau zum Bild werden lassen, zum Bild im Monitor, und nur ganz kurz werden wir an seinen Raum erinnert, daß auch er da ist.

Jutz: Wer ist "er"?

Tscherkassky: Er, das ist der Blickende, der sich in seinem Blick von sich selbst und der Welt entfremden kann. Die Angst des Voyeurs, des Filmemachers...
Jedenfalls ist das ein Beispiel, wie ich quer durch den Film seine formale Struktur inhaltlich interpretiert habe.

Jutz: Der Monitor ist eines der häufigsten Bildmotive in "Parallel Space". Inwieweit ist das Verhältnis von Film und Video ein Thema?

Tscherkassky: Als Steve Anker, der Leiter der Cinematheque San Francisco, den Film in einer frühen Version am Schneidetisch gesehen hat, hat er gesagt, daß ich großes Talent habe, das Physische von Film spürbar werden zu lassen. Anker kennt alle meine Filme, insofern habe ich mich über diese Bemerkung sehr gefreut. Dieses Physische, die Körperhaftigkeit, das Angreifbare des Filmstreifens, das ist mir wirklich wichtig, und das fehlt mir beim Video. Bei "Parallel Space" habe ich mit allen Formaten gearbeitet, und habe jeden einzelnen Kader in der Hand gehabt und tatsächlich gespürt, und ich hoffe, daß ich diese besondere Qualität von Film auch vermitteln konnte.
Auch der Flicker-Effekt ist einer, den es nur im Kino geben kann. Das geht auf einem Monitor nicht. Mit der Zeit beginnt das leicht in den Augen zu schmerzen, und deshalb habe ich die Anfangssequenz so gestaltet: nur Schwarz und Weiß, die Grundelemente von Film, das soll das Publikum spüren, wie das durch den Raum pulsiert. Dieses Physische macht für mich das Kino aus. Obwohl ich mich schon 1981, in "Aderlaß", mit diesen beiden Polen des Lichts beschäftigt habe, und das ist weitergegangen bis "tabula rasa" von 1987, auch dieser Film beginnt mit völligem Schwarz und endet im reinen Weiß.

Jutz: Hängt "Parallel Space: Inter-View" sonst noch mit "tabula rasa" zusammen?

Tscherkassky: Ganz direkt. Das geht hin bis zu dem Spiegel, den ich hier verwendet habe, das ist derselbe wie in "tabula rasa". Bloß war der Blick auf die Frau in "tabula rasa" ein völlig anderer. Maureen Turim hat als Kritik dazu gemeint, daß hier die Frau als Schauobjekt fetischisiert wird, und das stimmt natürlich, obwohl diese Fetischisierung in"tabula rasa" als Metaebene erfahrbar ist. Jedenfalls habe ich in "Parallel Space" den Blick der Frau zurück auf die Kamera gesucht, den Blick auf das, was sie sieht und was sonst verborgen bleibt, nämlich auf den Filmemacher beim Herstellen seiner Bilder.
Außerdem wollte ich keine Ästhetik des Fetischs mehr. Deshalb ist dieser Film viel rauher an seiner Oberfläche. Ich habe fast das meiste Material selber entwickelt, mit sehr grobem Korn, das ist russisches Super 8 Material in tschechischen Chemikalien entwickelt, und der 35mm Film ist auf Polyesterbasis, ein Material, das in Banken zur Überwachung verwendet wird, also auch nicht grad das Neueste aus den Eastman-Laboratories.

Jutz: Gibt es etwas Neues, das Du formal und inhaltlich mit "Parallel Space" Deinem bisherigen Œuvre hinzufügen konntest? Siehst Du diesen Film als Weiterentwicklung Deiner Arbeit?

Tscherkassky: Ich habe schon früher Fotos in Filmen verwendet, aber diesmal habe ich wirklich etwas vom Verhältnis zwischen dem einzelnen Bild und dem Filmstreifen zeigen können. Man sieht ja mehrere Sequenzen zweimal, weil diese Hand, die am Anfang die Wörter schreibt, später einzelne Kaderserien nochmals als Fotos zeigt.



Das ist wieder in Negativ gefilmt und die Hand hält Negativabzüge, die dann positiv erscheinen. Im ganzen Film ist das Negativ immer als der eigentliche Hintergrund präsentiert, aus dem alles herauswächst und der nochmals kommentiert, was aus ihm herausgekommen ist. Man sieht, wie der Film aus diesen Bildern zusammengesetzt ist, und wieviel jedes einzelne erzählen kann, zum Beispiel, wie bei der "Wild River"-Passage Montgomery Clift sich im Moment, wo ihm Lee Remick um den Hals fällt, genau fünf Kader lang widerwillig abwendet. Und am Schluß des Films, da lege ich zwei Fotogramme aus der Anfangslaufschrift "I was looking for you" in die beiden Bildhälften, und zwar die Teile "I was" und "for you", daraus wird ein flickerndes "I was for you" und dann schreibe ich nochmals auf einen Zettel "looking" und lege das über das "I was" und es entsteht "looking for you" und dann verdecke ich mit "looking" noch das "for you" und die Hand schiebt in Zeitlupe das "looking" aus dem Bild und zurück bleibt wieder das reine Schwarz vom Beginn. Das sind Sequenzen, die ich liebe.
Insgesamt war dieser Film eine Zangengeburt. Denn es gab auch Zeiten, da habe ich ihn gehaßt, aber ich habe immer gewußt, daß er einmal fertig sein würde, und heute halten ihn viele Leute, auf deren Urteil ich zähle, für meinen besten Film.

Quelle: blimp — Zeitschrift für Film, Heft 22/23, Graz 1993

Gabriele Jutz studierte Romanistik und Geschichte in Salzburg sowie Filmwissenschaft in Paris (Metz, Aumont, Colin); Dissertation über Geschichtsbilder im französischen Kino; Forschungsprojekt des FWF: "Frauen im Film"; Lehraufträge an den Universitäten Salzburg und Wien; 1991 Professur für Film an der FU Berlin; Mitarbeit beim Forschungsprojekt "Inter- und intrakulturelle Kommunikation" der Akademie der Wissenschaften (Bereich: nationale Präsentationsformen im französischen und österreichischen TV); zahlreiche Publikationen im Bereich Filmtheorie, -geschichte und Semiotik. Unterrichtet Filmanalyse und Filmgeschichte an der Universtität für Gestaltung, Wien.