Amy Taubin

FLASH FLOODS
Zu Peter Tscherkasskys Film "Parallel Space: Inter-View"

Parallel Space: Inter-View ist ein Film über die Verwandlung. Die Bilder eines Fotoapparates werden zu Filmbildern. Dies bezeichnet Peter Tscherkassky als die "strukturelle" Basis seines Filmes. Während wir uns die gespenstischen, flickernden Bilder anschauen, werden uns die Vorgänge bewußt, in denen unsere Wahrnehmungen sich in Bilder und diese Bilder wiederum in Erinnerungen umwandeln. Bei der Transformation von Wahrnehmung in Erinnerung kann die Fotografie als Vermittler funktionieren. Außerdem bilden die Verfahren der Fotografie – nämlich die materiellen Veränderungen, die mit der Aufnahme, Entwicklung und Vergrößerung verbunden sind, und (im Falle eines Films) das Projizieren – Metaphern für psychologische Vorgänge. So wie auch Tscherkassky diversen Wortspielen in seinem Film große Bedeutung einräumt, könnte man sagen: "Grain storms evoke brain storms" ("Kornblitze erzeugt Geistesblitze").



Parallel Space: Inter-View geht die Sprache dem Bild voran. Der achtzehn Minuten lange Film beginnt mit einigen Sätzen, die von Schwarzfilm begleitet werden. "This is the message he left: 'Dear Tim, thanks for the use of your space. I'm in a hurry, I have to go right away. Here's my new film. It's finished at last, as you can see. Originally, it was going to be a strictly structural film, but it turned out to be one of the most personal I've made. Basically what I tried to do was to ...'" Während die Stimme ausgeblendet wird, erscheint ein flickerndes, kontrastreiches, körniges Negativ-Schwarzweißbild. Dieses zeigt im wesentlichen eine Hand in Großaufnahme, die eine Reihe weißer Papierblätter ins Bild schiebt. Auf das erste Blatt schreibt sie das Wort "Physics", auf die nachfolgenden die Wörter "The Physics of Seeing" und "The Physics of Memory". Das Bild wird begleitet von einem pulsierenden elektronischen Ton, der mit ein- und ausgeblendeten Musik- und Sprachfragmenten durchwoben ist. Mit Ausnahme der geschriebenen Wörter kommt einem das flickernde Bild weitgehend abstrakt vor. Nachdem das Auge sich jedoch an das Flickern gewöhnt hat, werden schemenhaft räumliche und architektonische Umrisse sichtbar. Nach ungefähr zwei Minuten rückt die Großaufnahme eines Computermonitors ins Blickfeld, auf dem die Wörter "All I remember is: I was looking for you" in Laufschrift erscheinen. Das Bild beginnt wieder intensiv zu flickern, und durch diesen Flickereffekt hindurch erkennt man die Silhouette eines Frauenkopfes, einen Mann mit einer Kamera auf seiner Schulter, und den Umriß eines Fensters. Dann kehrt plötzlich das Bild des Computerbildschirms zurück. Diesmal lautet die Mitteilung: "I tried to follow but I stumbled as that point vanished. I fell". Im Kontext der schwer definierbaren Bildersymbolik und des beängstigenden Tones läßt der Satz an die Erzählung eines Traumes denken.

Während der verbleibenden 10 Minuten tauchen ungefähr ein Dutzend visueller Motive mit zunehmender Intensität auf; ein Raum und seine Einrichtung, eine Couch und ein Fauteuil (die das Setting und die Sphäre der Psychoanalyse andeuten), eine Sequenz aus dem Hollywood-Spielfilm Wild River, das Gesicht einer Frau in extremer Großaufnahme, dann eine andere Frau, die sich in einer Totalen auszieht, das sehr alte Foto eines Paares, die Großaufnahme eines Jungen ... Wegen des extrem kontrastreichen, körnigen Charakters der sich überlagernden Bilder fehlen ihnen die Feinstruktur und die Räumlichkeit. Der ganze Film wirkt, als wäre er eine skizzenhafte Kohlezeichnung. Kurz vor der letzten Abblende erscheinen wieder die Wörter "I was looking for you". Diesmal ist der Satz zerlegt: Seine Teile "I was" und "for you" erscheinen in zwei getrennten, sich aber überlagernden Bildräumen. Schließlich kommt eine Hand ins Bild, die das Wort "looking" schreibt - das Wort, das die Wörter "I was" und "for you" miteinander verbindet. Die Hand gleitet aus dem Bild und der Film ist zu Ende.

Tscherkassky schreibt, daß Parallel Space: Inter-View seinen Ursprung in jenem Moment hatte, als er bemerkte, daß ein einzelnes Negativ einer Kleinbildkamera die gleiche Größe hat wie zwei Filmbilder. Auf einer optischen Bank fotografierte er die einzelnen Bilder diverser Filmstreifen. Mit diesem Zwischenschritt über die Fotografie wird jeder originale Filmkader in zwei neue Filmkader zerlegt. Wird der Film projiziert, verschmelzen die beiden aufeinander folgenden Bildhälften im Auge des Betrachters. Auf diese Weise wird die Einheit des Bildes in Frage gestellt und die Illusion einer dreidimensionalen Raumwiedergabe zerstört.

Die Methode des optischen Printens ist bekannt, und wurde namentlich in den frühen sechziger Jahren vom amerikanischen Avantgarde-Filmemacher George Landow verwendet. Landow hat eine Reihe von Filmen gemacht, in denen er 8mm Filmstreifen auf 16mm Streifen umkopierte. Auch Tscherkasskys Beschäftigung mit der materialen Oberfläche des Filmstreifens läßt sich bis Landow zurückverfolgen, insbesondere auf seinen Film In Which There Appear Sprocket Holes, Edge Lettering, Dirt Particles etc. von 1966.

Die Hauptverbindung zwischen Tscherkassky und Landow ist jedoch sprachlicher Natur. Ein Vergleich zwischen Tscherkasskys "I was looking for you", das zweimal wiederholt wird, und dem Untertitel "This film is about you and not about its maker", der kurz nach dem Anfang und wieder am Ende von Landow's Remedial Reading Comprehension von 1970 auftaucht, läßt eine Parallele zwischen der Positionierung dieses Satzes und Tscherkasskys Schlüsselsatz deutlich werden. In Landows Film wird der Text über eine Aufnahme des auf einer schattigen Straße laufenden Filmemachers kopiert. Dieses Bild selbst ist eine Doppelbelichtung: Landow hat die originale Aufnahme seines laufenden Selbst noch einmal abgefilmt und diese zweite Aufnahme über die erste kopiert, ohne die beiden in exakte Übereinstimmung zu bringen. Diese Darstellung eines gespaltenen Selbst verleiht dem Wort "you" eine starke Mehrdeutigkeit. "This film is about you and not about its maker" könnte bedeuten, daß dieser Film von einem Landow handelt, der als Bild auf der Leinwand ist, und nicht vom Filmemacher Landow. Oder "you" könnte sich auf die Zuschauer beziehen, was wiederum bedeuten würde, daß das Thema des Films seine eigene Rezeption wäre, das heißt, die Reaktion des Zuschauers sei Gegenstand des Filmes. Da diese Auslegungen (mitsamt einigen anderen) gleiche Gültigkeit haben, hat die Aussage zur Folge, daß die Beziehung zwischen Zuschauer und Objekt (oder Zuschauer und Filmemacher) destabilisiert wird, daß die Subjekt/Objekt-Stellungen in einen ständigen Wechsel gebracht werden.

In Parallel Space: Inter-View bewirkt der Satz "I was looking for you" eine ähnliche Destabilisierung. Möglicherweise stellt der Filmemacher das "Ich" dar, das seine Identität innerhalb des Filmes sucht. Ein gegen Ende des Films erscheinendes Bild eines kleinen Jungen, der mit einer Vaterfigur konfrontiert wird, deutet diese Art von Suche nach dem Selbst an. Vielleicht aber ist das "you" ein verlorenes Objekt – eine Geliebte oder eine Mutter. Der Satz könnte sich auch auf die wechselseitige Verbindung zwischen Filmemacher und Zuschauer beziehen, innerhalb der jeder den Akt des Sehens im Dienst des anderen ausführt.
Tscherkassky greift verschiedene visuelle Motive des strukturellen Films der sechziger Jahre auf (nicht nur von Landow, sondern auch von Peter Kubelka, Hollis Frampton, Ernie Gehr und Paul Sharits) und interpretiert sie im Licht der Lacan'schen Psychoanalyse. Wenn der Filmemacher (oder, um es genauer zu sagen, sein unsichtbares Double) in den für "Tim" hinterlassenen Zeilen sagt, der Film sei "the most personal I've ever made", will er damit nicht sagen, der Film sei wie ein Tagebuch zu verstehen. Vielmehr enthält er Hinweise auf die ödipale Konstruktion des Selbst, die zu entdecken einem Psychoanalytiker wahrscheinlich viel Vergnügen bereiten würden. Wenn der Film dem Erlebnis eines Traums ähnlich ist, so ist der Filmemacher sowohl der Analysand, der den Traum hervorbringt, als auch der den Traum deutende Analytiker.
Besonders überzeugend ist in diesem Zusammenhang die Art, in der Tscherkassky von einer Sequenz aus Elia Kazans Hollywood-Film Wild River (1960) Gebrauch macht. Das Material ist ziemlich obskur, fast schon ein verlorenes Objekt. Nach seiner Premiere in den USA wurde Wild River von der Kritik verrissen und geriet zum Kassenflopp; eine teilweise Rehabilitation gelang erst den Kritikern der Cahiers du Cinéma. In den Vereinigten Staaten taucht der Film in Gestalt einer verpfuschten Kopie hin und wieder im Fernsehen auf, mit einem Format, das für den Bildschirm zurechtgestutzt wurde. Es ist zweifelhaft, ob eine brauchbare CinemaScope-Kopie noch zu finden wäre. In diesem Sinn hat Wild River bereits eine negative Verwandlung durchgemacht, lange noch bevor Tscherkassky sich ihn als Found Footage aneignete, um es für seinen eigenen Film zu plündern.

Wild River spielt Mitte der dreißiger Jahre und die Hauptrolle spielt Montgomery Clift als ehrgeiziger Beamter der Tennessee Valley Authority der Roosevelt-Regierung. Clift ist der unangenehme Auftrag erteilt worden, eine steinalte Matriarchin (gespielt von Jo van Fleet) zum Verlassen der von ihr und ihrer Familie seit sechzig Jahren bewohnten Flußinsel zu zwingen, um es der Regierung zu ermöglichen, den geplanten Staudamm am Tennessee-River fertigzustellen. Die Tennessee Valley Authority will mit dem Damm sowohl Elektrizität gewinnen als auch Überschwemmungen verhindern. Also war Wild River selbst schon ein Film über die Verwandlung von Materie (Wasser in elektrischen Strom). Darüberhinaus betonte die Werbekampagne für den Film die metaphorische Beziehung zwischen der Energie der Materie und libidinösen Trieben. "Their love was as wild as the river", lautete der Reklameslogan auf den Plakaten.
Die Art, in der Clift und Lee Remick (die van Fleets verwitwete Schwiegertochter spielt) als Paar zueinander finden, ist eine der anomalsten in der Filmgeschichte Hollywoods. Kazan teilte Clift die Rolle erst zu, als Marlon Brando, seine erste Wahl, nicht mehr verfügbar war. Um 1960 hatte Clift nur noch eine zaghafte und fast total passive Ausstrahlung als Schauspieler. Es ist schwer zu glauben, daß Kazan nicht erkannte, daß sein Hauptdarsteller die traditionelle Schilderung einer heißen Filmromanze total sabotieren würde. Clifts extreme Passivität zwang Remick dazu, eine sexuell aggressive Haltung einzunehmen. In der von Tscherkassky ausgewählten Sequenz geht sie das Risiko einer Demütigung ein, indem sie dem völlig zurückhaltenden Clift ihre leidenschaftliche Liebe gesteht. Als er sie prompt mit Schweigen zurückweist, wirft sie sich auf ihn, als würde sie ihn mit der Kraft ihres Begehrens überwältigen wollen. Dies ist (mit Ausnahme der sogenannten "screwball comedies") einer der wenigen Momente im Kino Hollywoods überhaupt, in dem einem "guten" Mädchen gestattet wird, sexuell aggressiv zu sein. Noch dazu macht sich ihre Aggressivität bezahlt, da in einer der folgenden Sequenzen Clift ihr einen Heiratsantrag macht (nachdem Remick ihm das Leben gerettet hat).

In der Schlußszene von Wild River fliegen Remick und Clift frischvermählt über den nun vollendeten Damm (van Fleet stirbt kurz nachdem sie von der Insel evakuiert wurde). Die Institutionen der sogenannten "New Deal"-Demokratie (mit Franklin D. Roosevelt in der Rolle des großen, sich im Off des Films befindlichen Patriarchen) haben sich durchgesetzt. Der Fluß wurde unter Kontrolle gebracht, das Matriarchat abgesetzt, und auch das sexuelle Begehren der Frau wurde in den Bahnen der Ehe reguliert. Obendrein hat Remick, in der Kinotradition des "guten" Mädchens, zu ihrer eigenen Unterdrückung beigetragen.
Tscherkassky eignet sich zwar eine Sequenz aus Wild River an, doch vermeidet er die Schlußfolgerung der Erzählung, die eheliches Glück mit einer guten Regierung parallelisiert. Die Fetischisierung der Liebesszene zwischen Remick und Clift mit ihrer beunruhigenden Mischung aus Begehren und Frustration liefert einen Beweis für die Parallel Space: Inter-View durchdringende ödipale Angst. Tscherkassky legt eigene Aufnahmen einer Frau (sowohl in Großaufnahme als auch in Totalen) über die Wild River-Szene. Die Frau zieht sich aus, dann kommt eine kurze Aufnahme, die möglicherweise ein Paar auf einem Bett zeigt. Ihre sexuelle Begegnung wird von einer männlichen Stimme unterbrochen, die von der komplex konstruierten Tonspur her die Anweisungen gibt: "Say what your mother says". Während dieser Satz ständig wiederholt wird, flickert das Foto eines kleinen Jungen auf der Leinwand. "There is an apple on the table", sagt eine weibliche Stimme immer wieder. Abgelöst wird diese extrem beunruhigende Szene von den Geräuschen orgasmischen Stöhnens und einem Bild von Körpern, die in so extremen Close-ups aufgenommen sind, daß sie beinahe abstrakt werden. Schließlich erscheint ein Fotogramm des Computerbildschirms, der das isolierte Wort "remember" zeigt, das auf Fotos des kleinen Jungen gelegt wird. Dem folgt die Schlußsequenz mit der Hand, die das Wort "looking" schreibt, das die zwei Teile der elektronischen Nachricht "I was for you" miteinander verbindet.

Das Revival des strukturellen Filmes der sechziger Jahre seitens Tscherkasskys und einiger Kollegen seiner Generation österreichischer Filmemacher wirkt aus amerikanischer Sicht überraschend und nicht unbedingt zwingend. In Parallel Space: Inter-View jedoch bilden die abfotografierten skelettartigen Bilder, die geschundene materiale Oberfläche des Filmstreifens, die Fragmentierungen und Repetitionen sowohl im Ton als auch im Bild starke Korrelate für die psychischen Vorgänge, die Tscherkassky heraufbeschwört. Darüberhinaus gibt es eine Spannung zwischen der hermetischen Form des Films und dem Wunsch, das Selbst den Augen des anderen zu zeigen. Sowohl in seiner Form als auch in seinem psychologischen Inhalt ist Parallel Space: Inter-View äußerst reflexiv. "To look for the other", den anderen zu suchen, heißt "to look for the self" - sich selbst zu suchen.

Amy Taubin schreibt regelmäßig für Village Voice, wo ihre Kolumnen "Art and Industry" und "Two or Three Things ..." zweimal im Monat erscheinen. Sie ist Mit-Herausgeberin von Sight and Sound und schreibt häufig für Mirabella. Sie machte den Avantgardefilm In the Bag (1981), der sich in den Sammlungen des "Museum of Modern Art" in New York und der "Freunde der Deutschen Kinemathek" in Berlin befindet. Von 1983 bis 1987 war sie Vorsitzende für Film und Video bei "The Kitchen" in New York City.

Übersetzung: Claire Charters

Quelle:
"Eikon. Internationale Zeitschrift für Photographie & Medienkunst",
Heft 7/8, Wien 1993

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